Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
immer geben. Nein. Sie sind der erste Tropfen Gift in einem Fluß. Fitz, kann ich wagen, dir alles zu offenbaren? Wenn wir versagen, wird das Gift sich unaufhaltsam ausbreiten. Entfremden, sich zu einem Brauch entwickeln, nein, zu einer Lustbarkeit für den Adel. Sieh dir Edel an und seine ›Gerechtigkeit des Königs‹. Er ist bereits verseucht. Er reizt seinen Körper mit Drogen und betäubt seine Seele mit grausamen Vergnügungen. Ja, und von ihm springt die Seuche auf jene über, die um ihn sind, bis sie keine Freude mehr an einem Wettstreit haben, bei dem kein Blut fließt, bis Spiele nur dann noch amüsieren, wenn es dabei um Leben und Tod geht. Das kostbare Gut des Lebens wird mit Füßen getreten werden. Sklaverei breitet sich aus, denn, wenn es legitim ist, das Leben eines Menschen auszulöschen um der Unterhaltung willen, warum dann nicht klug sein und einen schwunghaften Handel damit betreiben?«
Die Stimme des Narren war über dem Sprechen lauter und leidenschaftlicher geworden. Jetzt hielt er plötzlich den Atem an und beugte den Oberkörper über die Knie. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, doch er schüttelte nur den Kopf. Nach ein paar Atemzügen richtete er sich wieder auf. »Ich muß schon sagen, mit dir zu reden ist anstrengender als ein Gewaltmarsch. Glaub mir, Fitz, so schlimm die Roten Schiffe auch sein mögen, sie sind nur Dilettanten, naive Empiriker. Ich habe in Visionen gesehen, wie die Welt in dem Zyklus, in dem sie die Oberhand behalten, aus den Fugen gerät. Es wird nicht dieser Zyklus sein, mein Wort darauf.«
Er erhob sich schwerfällig und hielt mir den angewinkelten Arm hin. Ich nahm ihn, und wir setzten unseren Weg fort. Er hatte mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben; deshalb war ich kein sehr gesprächiger Gefährte an diesem Nachmittag. Das ebener werdende Gelände erlaubte mir, neben der Straße zu gehen, und der Narr beschwerte sich nicht über den unebenen Boden.
Je weiter die Straße ins Tal hinunterführte, desto wärmer wurde es und desto üppiger die Vegetation. Gegen Abend war das Terrain so günstig beschaffen, daß wir das Zelt nicht nur neben der Straße, sondern in ziemlicher Entfernung davon aufschlagen konnten. Vor dem Schlafengehen demonstrierte ich Krähe die Lösung für die gestellte Aufgabe, und sie nickte zufrieden. Sofort begann sie, eine neue Stellung aufzubauen, aber ich hielt ihre Hand fest.
»Heute nacht brauche ich das nicht. Ich freue mich darauf, tief und fest zu schlafen.«
»Wirklich? Dann solltest du dich nicht darauf freuen, wieder aufzuwachen.«
Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Sie befreite ihre Hand und fuhr fort, die Steine auszulegen. »Du bist einer gegen drei, und diese drei bilden eine Kordiale«, erklärte sie in sanfterem Ton. »Und möglicherweise sind diese drei sogar vier. Wenn Edels Brüder der Gabe mächtig waren, verfügt höchstwahrscheinlich auch er über ein gewisses Maß davon. Mit der Hilfe der anderen könnte er lernen, ihnen seine Kraft zu leihen.« Sie beugte sich dichter zu mir heran und senkte ihre Stimme, obwohl alle anderen mit ihren Pflichten beschäftigt waren. »Du weißt, daß es möglich ist, mit der Gabe zu töten. Würde er diese Möglichkeit nicht nutzen?«
»Aber wenn ich abseits der Straße schlafe...«
»Der Einfluß der Straße ist wie der Wind, der für alle gleich weht. Der böse Wunsch einer Kordiale ist wie ein Pfeil, der nur auf dich zielt. Außerdem, wenn du schläfst, kannst du nicht verhindern, daß deine Gedanken zu der Frau und dem Kind wandern. Und jedesmal, wenn du an sie denkst, ist es möglich, daß die Kordiale sie durch deine Augen sieht. Du mußt sie aus deinem Bewußtsein verdrängen.«
Ich beugte den Kopf über das Spiel.
Am nächsten Morgen weckte mich das Prasseln von Regen auf der Lederhülle der Jurte. Ich blieb in meinen Decken liegen und lauschte dem Geräusch – einerseits dankbar, daß wir von Schnee und Eis erlöst waren, andererseits nicht begeistert von der Aussicht auf einen Fußmarsch bei Regen. Ich fühlte das Erwachen der anderen ringsum mit einer Deutlichkeit wie seit Tagen nicht. Fast kam es mir vor, als wäre ich wacher als sonst. An der gegenüberliegenden Seite der Jurte bemerkte Merle schläfrig: »Wir sind gestern vom Winter in den Frühling hineingegangen.«
Der Narr neben mir streckte den Kopf aus den Decken, kratzte sich und brummte: »Typisch Vaganten. Immer müssen sie übertreiben.«
»Wie man sieht, geht es dir besser«,
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