Die Legenden der Vaeter
Umlauf gesetzt hatte, sich mit den Erzählungen und Erinnerungen meines Vaters zu einem trügerischen, aber erstaunlich tragfähigen Gebilde verbanden. Ich selbst hatte es immer wieder erweitert und unter anderem die Geschichte von Józefs Flucht aus dem besetzten Polen auf das Buch über die Schlacht bei Monte Cassino zurückgeführt, das meine Großmutter meinem Vater eines Tages aus der Truppenbibliothek der Kaserne in Fürstenau mit nach Hause gebracht hatte.
Ich war froh darüber gewesen, dass sich ein letzter Rest dieser Erzählung, die mich in meiner Kindheit begleitet hatte, in Józefs eigenem Bericht von seinem Einsatz in Arnheim wiederfand. Doch zuletzt fiel auch dieser Teil der Geschichte in sich zusammen. Józef Koźlik war ein Lügner. Das, was er nach seiner Rückkehr in Steblau erzählte, entsprach nicht der Wahrheit. Er war nie desertiert, und er war auch nicht in Arnheim gewesen.
|169| J ózef gerät am Abend des 11. Juli 1944 bei Saint-Lô in amerikanische Gefangenschaft. Dann wird er den Briten übergeben. Nach der Überfahrt über den Kanal geht er zusammen mit den anderen Soldaten in einem gesichtslosen englischen Militärhafen von Bord des Schiffes und wird in ein überfülltes Durchgangslager hinter der Küste gebracht. Die hastig errichteten Holzhütten und Zelte quellen über vor deutschen Soldaten, und Józef verbringt zwei Nächte auf dem Fußboden, bis es ihm gelingt, seine letzten zwei Zigaretten gegen einen halben Schlafplatz einzutauschen. Am nächsten Morgen müssen sämtliche Gefangenen auf dem Platz in der Mitte des Lagers zum Appell antreten. Ein englischer Offizier geht mit einem Klemmbrett in der Hand und einem Dolmetscher an seiner Seite die Reihen ab. »Ich bin Pole«, sagte Józef, aber der Offizier sieht ihn nicht einmal an.
Sein Soldbuch wird einbehalten, und Józef bekommt eine Blechmarke mit der Gefangenennummer 556497. Er wird in einen Zug gesteckt. Die Fenster des Waggons lassen sich nicht öffnen, es ist heiß und stickig. Die Fahrt dauert den ganzen Tag. Den letzten Teil der Strecke legt Józef auf der offenen Ladefläche eines Lkws zurück, zusammengepfercht mit zwei Dutzend anderer Soldaten, die Uniformen der Wehrmacht tragen, die aber, wie sich auf dem Weg herausstellt, alle besser Polnisch sprechen als Deutsch.
|170| Das Ziel ist ein kleiner Ort in Schottland. In Woodhouselee, am Rand der Pentland Hills, hat die britische Armee zu Beginn des Krieges ein
training camp
eingerichtet. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie war das Militärgelände kurzerhand in ein Kriegsgefangenenlager umgewandelt worden, mit Holzbaracken, in denen Platz für knapp dreihundert Soldaten ist. Wachen patrouillieren mit dem Gewehr im Anschlag entlang eines doppelten Zauns aus Stacheldraht, und die Essenrationen sind gerade so groß, dass keiner der Gefangenen auf dumme Gedanken kommt. Woodhouselee Camp ist ein ganz normales englisches Kriegsgefangenenlager. Zumindest auf den ersten Blick.
In Wahrheit ist das Camp einer der Sammelpunkte für polnische Wehrmachtsoldaten. Sie alle sind in den letzten vier Wochen in der Normandie in Gefangenschaft geraten. Jeden Morgen treten sie zum Appell an, der
staff sergeant
, der einen Gummiknüppel in der Hand trägt, lässt durchzählen, und anschließend kehren sie zurück in die Baracken. Es gibt nichts zu tun im Lager, und so verbringen sie die Tage damit, über ihre Lage zu beratschlagen.
Alle wissen, dass polnische Soldaten in den Reihen der Alliierten kämpfen. Jeder von ihnen hat von der
Armia Andersa
gehört, sie wissen von der Fallschirmjägerbrigade, die seit Beginn des Krieges in England darauf wartet, Warschau von den deutschen Besatzern zu befreien. Sie kennen genau wie Józef die Geschichten von Überläufern, die in Nordafrika und Italien die Seiten gewechselt haben und von alliierten Soldaten mit Beifall begrüßt worden sind, aber niemand von ihnen ist sich sicher, welches Schicksal die polnischen Soldaten erwartet, die in Kriegsgefangenschaft |171| geraten sind. Wenn es stimmt, dass die Engländer nach vier Jahren Krieg und schweren Verlusten auf jeden Soldaten angewiesen sind, den sie für den Kampf gegen Hitlers Armee gewinnen können, warum hat man sie dann in die schottische Einöde gebracht, um sie hinter Stacheldraht in einem Lager einzusperren und mit Haferflockenbrei zu füttern?
Es gibt eine mögliche Antwort auf diese Frage. Die jungen Polen, die in den Baracken auf ihren harten Pritschen sitzen, waren
Weitere Kostenlose Bücher