Die Legenden der Vaeter
die stechenden Kopfschmerzen, die der selbstgebrannte Alkohol hinterließ. Dann entließen sie ihn, am 7. Februar 1951, zehn Tage vor seinem 26. Geburtstag. Im Gefängnis wurden ihm seine Habseligkeiten ausgehändigt. Den Koffer bekam er zurück, sogar die Taschenuhr, damit hatte er am wenigsten gerechnet. Draußen holte er als Erstes den braunen Umschlag hervor und warf im grellen Licht des Wintertages einen Blick auf die Fotografien von Marianne, ihm und seinem Sohn. Die gemeinsamen Spaziergänge, ihre Hoffnungen und ihre Träume, ein Kind, das sich an ihren Händen festhält, als es im Garten seine ersten Schritte unter den Obstbäumen macht, das war jetzt Vergangenheit.
Der Krieg hatte aus Polen ein anderes Land gemacht, mit neuen Grenzen, die bereits während des Krieges festgelegt worden waren. Im Osten gingen Gebiete an die Sowjetunion verloren, im Westen war Land dazugekommen. Steblau |163| liegt nicht mehr am Rand von Polen, sondern in der Mitte, und im Kreis Lublinitz hat sich die Zahl der Einwohner durch die Flüchtlinge aus Lemberg, Tarnopol, Stanislau und Wolhynien verdoppelt. Für die angestammte Bevölkerung sind die ersten Jahre hart. Wohnraum ist knapp, und die Oberschlesier werden von den Zugezogenen offen angefeindet. In Lublinitz wird auf dem Gelände der Spinnerei an der Straße nach Tschenstochau ein Lager errichtet, in dem Hunderte von Menschen eingepfercht werden, die im Verdacht stehen, keine Polen, sondern Deutsche zu sein. Ein Teil von ihnen wird kurzerhand ausgewiesen und in einen der überfüllten Züge in Richtung Westen gesetzt.
Józefs Mutter und seine Schwestern gehören nicht dazu. Die polnischsprachigen Oberschlesier dürfen bleiben, doch von den kommunistischen Verwaltungsbeamten werden sie in den ersten Monaten nach dem Krieg als Bürger zweiter Klasse behandelt. Sie bekommen weniger Lebensmittelmarken zugesprochen als ihre neuen Nachbarn, und Maria fährt auch in den ersten Jahren nach dem Krieg über die Bauernhöfe, um Gemüse, das sie im Garten anbaut, gegen eine Handvoll Mehl einzutauschen oder den letzten Ring aus ihrer Schmuckschatulle für ein Stück Speck zu opfern.
Denunziationen sind an der Tagesordnung, alte Rechnungen werden beglichen, und schließlich setzt die Regierung in Warschau unter dem Stichwort
verifikacja
ein Verfahren in Gang, um den Oberschlesiern, die während des Krieges durch die Volksliste zu Deutschen gemacht worden waren, erneut die polnische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Kommissionen werden eingesetzt, noch einmal werden Fragebögen und Antragsformulare ausgeteilt und Sprachkenntnisse überprüft, so wie die Nationalsozialisten es während des |164| Krieges gemacht haben, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Ende der vierziger Jahre bekommen 850 000 Oberschlesier kurzerhand die polnische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Die Familie Koźlik, die zwanzig Jahre zuvor von Groß Stanisch nach Siemianowitz gezogen ist, kommt zum zweiten Mal in Polen an.
In dem Haus in Steblau geht das Leben weiter. Józefs älteste Schwester Anna hat einen Eisenbahner geheiratet und ein Kind bekommen. Sie haben sich im Obergeschoss des Hauses eine kleine Wohnung eingerichtet, ein Zimmer, eine Küche, ein Bad. Den Raum neben der Treppe, der noch übrig ist, teilen sich Lena und Hilda. Maria wohnt unten. Als Józef aus dem Gefängnis in Stargard entlassen wird und nach Hause kommt, wird es eng. Für ihn bleibt zum Schlafen nur die schmale Holzbank in der Küche seiner Mutter. Er winkt ab: »Es ist ja nicht für immer.«
Er erzählt, wie es ihm in den letzten sieben Jahren ergangen ist. Einiges wissen sie in Steblau bereits aus den Briefen, die er an seine Mutter geschrieben hat, aus Fürstenau, aus Bückeburg und einmal sogar aus dem Gefängnis in Stargard, als es ihm gelungen war, an ein Blatt Papier und einen Bleistift zu kommen. Doch erst jetzt, als er seine Erinnerungen immer wieder aufs Neue durchgeht und dabei den Wodka seines Schwagers trinkt, wird eine Geschichte daraus.
Sie beginnt im Mai 1944, als Józef Koźlik aus Steblau am Grab seines Vaters die Entscheidung trifft, bei der erstbesten Gelegenheit aus der Wehrmacht zu desertieren. Er ist dabei, als die polnischen Fallschirmjäger in Arnheim ihr blutiges Opfer für den Kampf gegen Hitler bringen, er zieht als Sieger in Deutschland ein, und in den befreiten Lagern bricht Jubel aus, wenn die Jeeps mit wehenden Flaggen |165| durch das Tor fahren, als hätte Polen doch noch den Krieg gewonnen. Während die
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