Die Legenden der Vaeter
Fallschirmjäger eingesetzt zu werden.
Als Józef gefragt wird, ob er Informationen über die Konzentrationslager auf polnischem Boden besitze, denkt er an das Gespräch mit seiner Mutter nach dem Tod seines Vaters und gibt seinem Lebenslauf eine weitere tragische Wendung. Er erklärt kurzerhand, dass sein Vater Augustyn Koźlik im Mai 1944 von den Deutschen in einem KZ ermordet worden sei. Auch diese Antwort wird zu den Akten genommen. Der Hauptmann schließt das Protokoll mit der Bemerkung, dass er keine Einwände gegen die Aufnahme des Befragten in die polnischen Streitkräfte habe. Józef Koźlik sei ehrlich, intelligent und bereit, für sein Vaterland zu kämpfen.
|177| Er wird in Whitburn gemustert. Die Musterungskommission besteht aus einem Vertreter des polnischen Generalkonsulats in London, einem polnischen Militärarzt und einem weiteren englischen Arzt, der die Rekrutierung der Soldaten im Auftrag der britischen Armee überwachen soll. Körpergröße und Gewicht werden auf dem Musterungsbogen in englischen Maßeinheiten angegeben. Józef wiegt elf
stones
, das sind knapp siebzig Kilo, und er ist 5,65
feet
groß, also hundertsiebzig Zentimeter. Er hat blonde Haare, blaugraue Augen und ein oval geformtes Gesicht mit flachem Kinn, auch das wird bei der Musterung festgehalten. Der polnische Arzt hört Lunge und Herz ab, sein englischer Kollege hat keine Einwände. Józef wird für tauglich befunden. Nur eine Formalie steht noch aus. Die polnische Armee stattet ihre Soldaten mit neuen Identitäten aus. Józef bekommt einen falschen Nachnamen samt Heimatadresse. In den offiziellen Dokumenten wird er ab sofort als Józef Chmielewski geführt, ein Deckname, der Jahre später noch einmal im Absender einiger seiner Briefe an meinen Vater auftauchen wird.
Zwei Tage darauf, am 22. September, wird Józef zusammen mit den anderen frischgemusterten Soldaten vereidigt und eine Woche später nach Ringway geschickt, dem Militärflughafen bei Manchester, auf dem die polnischen Fallschirmjäger stationiert sind. Er hat es geschafft. Er ist auf der richtigen Seite angekommen. Aus dem Beutekameraden Józef Koźlik ist der
kapral
Józef Chmielewski geworden.
Die Gemeinde Ringway liegt gut zehn Kilometer südlich von Manchester. Im Jahre 1938 war hier ein Flughafen eröffnet worden, mit einer Direktverbindung nach Amsterdam. Im Jahre 1940 richtete die britische Luftwaffe in Ringway |178| ein Ausbildungszentrum für Fallschirmjäger und Luftlandetruppen ein. Die
No. 1 Parachute Training School
macht sich schnell einen Namen. Hier werden nicht nur britische Soldaten ausgebildet, sondern sämtliche Fallschirmjäger der Alliierten, Amerikaner und Kanadier, aber auch Belgier, Holländer, Franzosen und Norweger, die aus ihren besetzten Ländern entkommen sind und sich dem Kampf gegen Deutschland angeschlossen haben.
In Ringway werden Legenden geschaffen. Als Józef auf dem Kasernengelände neben dem Flughafen eintrifft und einen ersten Blick auf den Tower und die beiden großen Hangars wirft, sieht er sich bereits als Elitesoldaten, der von seinen Erfahrungen als ehemaliger Pilot der deutschen Luftwaffe profitieren kann und bei Nacht und Nebel hinter den feindlichen Linien abgesetzt wird. Er beobachtet eine der zweimotorigen Mosquitos der Royal Air Force, die gerade zum Landeanflug ansetzt, und in diesem Augenblick glaubt er selbst an das Märchen, das er dem Major in Polkemmet House aufgetischt hat.
Am nächsten Morgen stellt sich Ernüchterung ein. Die Stimmung in den Mannschaftsunterkünften ist gedrückt. Wenige Tage zuvor waren polnische Fallschirmjäger, die den Vorstoß der Alliierten über den Rhein begleiten sollten, in der Nähe der niederländischen Stadt Arnheim in einen Hinterhalt geraten. Die 1. Unabhängige Fallschirmjägerbrigade hat starke Verluste erlitten. Józef und die anderen Soldaten, die gerade erst in Ringway eingetroffen sind, werden die Plätze der Toten und Verletzten einnehmen.
Józef wird zusammen mit den anderen Soldaten aus Woodhouselee einem Ausbilder zugeteilt, der in sechs Wochen echte Fallschirmjäger aus ihnen machen soll. Die Tage |179| beginnen mit endlosen Dauerläufen am Rand des Flugfeldes, das sich während der ersten, schweren Regenfälle Anfang Oktober in eine einzige Schlammlandschaft verwandelt. In der Trockenhalle üben sie tagelang das Abrollen auf englische Art und Weise, mit angezogenen Oberarmen, die sie fest an den Oberkörper pressen, während über ihnen an den Dachbalken
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