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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, als die Deutschen ihr Land überfielen. Manche von ihnen haben mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Väter und älteren Brüder zusammen mit den anderen Männern eines Dorfes auf den Marktplatz getrieben und kurzerhand erschossen wurden. Jeder von ihnen hätte Namen von Nachbarn, Bekannten und Freunden nennen können, die wie Alois Gambuschs Vater als Zwangsarbeiter in irgendeiner Munitionsfabrik in Deutschland gelandet oder aus den Kellern der Gestapo in Konzentrationslager geschafft worden waren. Manchmal kam noch ein mit einem stumpfen Bleistift geschriebener Brief aus Groß-Rosen, Neuengamme oder Dachau, dann hörte man nie wieder etwas von ihnen.
    Sie wussten, dass in den Konzentrationslagern der Tod wartete, und als Józef im Frühjahr 1944 nach dem Tod seines Vaters nach Lublinitz gefahren war, hatte Maria ihm an einem der Abende in der Küche von ihrem Bruder erzählt. Er lebte mit seiner Frau in Berun, einer Stadt ganz im Osten des oberschlesischen Industriegebietes, die nicht weit von Auschwitz und Birkenau entfernt lag. Wenn der Wind aus Südost komme, hatte er nach Augustyns Beerdigung erzählt, müssten sie die Fenster schließen, weil der Geruch der verbrannten |172| Leichen aus den Lagern über das Tal der Weichsel hinweg bis in ihre Wohnung getragen würde.
    Die polnischen Soldaten in Woodhouselee Camp haben Angst. Sie alle sind in den letzten Tagen und Wochen in der Normandie nach einer verlorenen Schlacht in einer verdreckten Wehrmachtsuniform aus einer Hecke oder einem Erdloch hervorgekrochen. Sie sind nicht in Monte Cassino todesmutig durch den Kugelhagel gestürmt, sie haben nicht unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens die Seiten gewechselt, sondern bis zur letzten Minute für die Deutschen gekämpft, für die gleichen Deutschen, die vor vier Jahren ihr Vaterland besetzt haben und seitdem nicht aufhören, ihre Landsleute zu ermorden. Niemand spricht es aus, aber jeder der jungen Männer, die jetzt in den Baracken von Woodhouselee Camp in Wehrmachtsuniformen auf den harten Pritschen hocken, fürchtet, dass man sie dafür hart bestrafen wird.
    Józef will es offenbar nicht darauf ankommen lassen. Zumindest ist das die einzige Erklärung für die haarsträubende Geschichte, die er Ende August einem Hauptmann der polnischen Exilarmee auftischt.
     
    Ende August beginnen die Verhöre. Józef wird nach Whitburn gebracht. Die kleine Stadt liegt auf der anderen Seite der Pentland Hills. Hier steht Polkemmet House, ein stattliches Herrenhaus, das einer englischen Adelsfamilie dreihundert Jahre lang als Landsitz gedient hatte, bis es zu Beginn des Krieges requiriert wurde. Die britische Regierung stellte das Anwesen der polnischen Exilarmee zur Verfügung, die hier zunächst ein Lazarett für verwundete Soldaten einrichtete. Mittlerweile war ein Teil des Verwaltungsapparates |173| der Exilarmee von London nach Schottland ausgelagert worden. In Polkemmet House wird über das Schicksal der polnischen Wehrmachtsoldaten entschieden, die in Kriegsgefangenschaft geraten sind.
    Als Józef von der Ladefläche des Lastwagens springt, sieht er weite, leicht geschwungene Rasenflächen, die von schmalen Wegen und Bächen durchzogen sind. Ein Teich glitzert in der Sonne, hinter einer Hecke verbirgt sich ein mit roter Asche ausgestreuter Tennisplatz, und ein paar Fähnchen lassen zwischen den Hügeln am Rand des Parks einen Golfplatz erahnen. Doch die eigentliche Attraktion ist das Gebäude selbst. Polkemmet House gleicht einem verwunschenen Schloss. Dichter Efeu rankt an den Mauern empor, an schmalen, hohen Fenstern entlang bis hinauf zum Dach, über helle Ziegel, gedrungene Gauben und spitze Giebel hinweg bis hin zu einem mit Zinnen besetzten Turm. Im Innern des Landhauses, in dem es vor Soldaten in polnischen Uniformen nur so wimmelt, stützen schlanke Säulen die mit Stuck verzierten Decken, und in den langen Fluren hängen an den Wänden dunkle, kaum noch zu erkennende Porträts bärtiger Männer.
    Es ist der richtige Ort, um ein Märchen zu erzählen. Selbstbewusst betritt Józef die Bibliothek, in der ein Hauptmann der polnischen Armee an einem schweren Schreibtisch sitzt, vor sich einen Stapel Papier, ein Glas und eine Kristallkaraffe mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Józef nimmt Haltung an. Dann beginnt er mit der Geschichte, die er sich in den letzten Tagen und Wochen im Lager sorgfältig zurechtgelegt hat.
     
    |174| Die Unterlagen der Exilarmee werden bis heute im

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