Die Legenden der Vaeter
Politiker über das Schicksal Europas entscheiden, laufen ein polnischer Besatzungssoldat und ein deutsches Mädchen Hand in Hand über die Felder. Am Ende des Krieges, in dem eine ganze Welt in Trümmer zerfallen ist, findet Józef das Glück seines Lebens. An dieser Stelle greift er in Steblau jedes Mal in die Tasche, und bevor er weiterspricht, holt er das Foto hervor, auf dem Marianne, er und sein Sohn in die Herbstsonne lächeln.
Er erzählt das alles immer wieder, tagelang, wochenlang, bis ihm zuletzt keiner mehr zuhört und sein Schwager ihm schon nach den ersten Sätzen großzügig nachschenkt und das Thema wechselt. Doch niemand wird die Geschichte vergessen. Als ich zwanzig Jahre nach Józefs Tod zum ersten Mal nach Lublinitz und Steblau fuhr, um seine Schwester Anna zu besuchen, schilderte sie mir das tragische Schicksal ihres Bruders Wort für Wort genau so. Zum besseren Verständnis zeichnete sie mit einem Bleistift sogar eine Landkarte in mein Notizbuch. Sie zeigt die Niederlande und Deutschland und einen stilisierten Fallschirmspringer, der bei Arnheim hinter den feindlichen Linien abspringt. »Das ist Józef«, erklärte Anna mir und deutete auf das Strichmännchen.
|166| A m Anfang hatte ich es für ein reizvolles Puzzlespiel gehalten, eine Biographie aus einzelnen Bruchstücken zusammenzusetzen. Dann hatte ich feststellen müssen, dass die Hinweise, die mich zurück in die Vergangenheit führten, oft falsche Fährten waren, die Józef selbst ausgelegt hatte, um sein eigenes Leben in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Das Blatt mit dem Briefkopf der Globus Lichtspiele GmbH, das er 1949 aus Deutschland mit nach Polen genommen und später meinem Vater geschickt hatte, hatte ich selbst in der Hand gehabt. Doch das Kino hatte es nie gegeben.
Ich war nach Bückeburg gefahren. Ich war die Wege abgelaufen, die Józef gegangen sein musste, vom Bahnhof zu dem Kino namens Residenz-Theater, das es noch immer gab, und zu dem Haus in der Scharnhorststraße, in dem Heinrich Schulenberg gewohnt hatte. Außerdem besuchte ich das Staatsarchiv, das in einem Flügel des Schlosses untergebracht war. Ich verbrachte drei Tage vor einem Mikrofiche-Lesegerät, nur um zuletzt herauszufinden, dass Józef nie eine Chance gehabt hatte, in dieser Stadt ein Kino zu betreiben. Es hatte von Anfang an mehrere Bewerber um die Lizenz gegeben, darunter der Pächter des Residenz-Theaters, der Besitzer einer Eisdiele und der Sohn des Besitzers der Gaststätte Brandhoff, in der das neue Kino eröffnet |167| werden sollte. Alle drei Bewerber kamen aus Bückeburg und hatten gute Kontakte zur Stadtverwaltung, und in dem Briefwechsel zwischen dem Magistrat der Stadt, den Militärbehörden und dem Wirtschaftsverband der Filmtheater fand ich keinen Hinweis darauf, dass die Globus Lichtspiele jemals in die engere Wahl gekommen wären. Mit der Währungsreform hatte das Scheitern dieses Vorhabens nichts zu tun gehabt. Die Firma war nie über einen Stapel Briefpapier mit vorgedruckter Geschäftsadresse hinausgekommen.
Die Sache mit dem Kino war nur eine Kleinigkeit. Meine Großmutter Marianne war bereits verstorben, doch wenn ich Verwandte besuchte, die nach dem Krieg in Fürstenau gelebt hatten, und sie nach Józef fragte, erinnerten sich alle zwar an den polnischen Soldaten, von dem Marianne 1946 ein Kind bekommen hatte. Gut sprach allerdings niemand von ihm. Von der tragischen Liebesgeschichte, die Józef in den Briefen an meinen Vater geschildert hatte und der ich bereitwillig gefolgt war, blieb schon bald nicht mehr viel übrig.
Hässliche Details tauchten auf. Józef hatte zu viel getrunken, was von Anfang an zu Streit zwischen ihm und Marianne geführt hatte. Seine Ausflüge nach Brüssel schienen tagelange Trinkgelage gewesen zu sein, die jedes Mal in Militärbordellen endeten. Marianne wusste davon, spätestens nachdem Józef sich wegen einer Geschlechtskrankheit hatte behandeln lassen müssen. Im Übrigen hatte er wohl nie vor, sie zu heiraten, zumindest habe ich nie einen Hinweis darauf gefunden, dass er sich um die entsprechenden Papiere bemüht hätte. Alles deutete darauf hin, dass es nicht Anna und Arnold waren, sondern Marianne selbst, die ihrem Verlobten im Sommer 1948 das Haus verbot, einem |168| Trinker, Hochstapler und Bankrotteur, der hinter den Geschichten, die er über sich erzählte, selbst kaum noch zu erkennen war.
Immer häufiger musste ich feststellen, dass die Legenden, die Józef über sein Leben in
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