Die Leibwächterin (German Edition)
von Helsinki nach Moskau oder Sankt Petersburg und brauchte dafür eine Aufpasserin. Offenbar bewegten sich ihre Immobiliengeschäfte in der Grauzone, aber solange ich nicht in illegale Aktionen einbezogen wurde, brauchte ich nicht um meine Lizenz zu fürchten. Dass ich nun ohne Empfehlung dastand, war allerdings unangenehm. Mike Virtue, unser Hauptausbilder an der Sicherheitsakademie, hätte über mein Verhalten nur den Kopf geschüttelt. Er hatte immer wieder betont, das Wichtigste für Bodyguards sei ein guter Ruf. Pannen seien nie ganz auszuschließen – zum Beispiel könne ein Einzelner sein Objekt nicht vor den Kugeln einer ganzen Bande von Killern schützen, die es gleich von mehreren Verstecken aus ins Visier nahmen. Doch niemals dürfe man das Vertrauen seines Auftraggebers enttäuschen. Ich hörte Mikes Predigt im Kopf, während ich mein zweites Bier trank.
Natürlich versuchte Anita, mich zu erreichen und meine Kündigung rückgängig zu machen. Ich wusste einfach zu viel über sie. Unter anderem war ich genau darüber informiert, wie die Sicherheitssysteme in ihrem Haus und in ihrer Firma funktionierten. Die Leute, die Anita bedroht hatten, würden sich diese Informationen eine hübsche Summe kosten lassen. Wenn ich die nächsten paar Jahre müßig leben wollte, bräuchte ich mein Insiderwissen nur an die Person zu verkaufen, die noch im Frühsommer mehrmals gedroht hatte, Anita umzubringen.
Ich hatte Anita nach und nach dazu gebracht, mir zu verraten, wen sie in Verdacht hatte. Ein Bodyguard muss die Fähigkeit besitzen, wie Kriminelle zu denken und ihre Aktionen vorherzuahnen. Außerdem hatte ich dafür gesorgt, dass meine Auftraggeberin nie allein war. Ihr Mann war schon vor Jahren von der Bildfläche verschwunden und in irgendein Kaff in Ostlappland gezogen, und ihre einzige Tochter lebte in Hongkong. Deshalb hatte ich oft in ihrem zweihundert Quadratmeter großen Reihenhaus im Helsinkier Luxusviertel Lehtisaari übernachtet. Als Allererstes hatte ich dort das Alarmsystem ausgewechselt, denn hinter den Drohungen steckte mit größter Wahrscheinlichkeit Anitas ehemaliger Liebhaber, der des Öfteren in ihrem Haus gewesen war. Dieser Mann hieß Valentin Feodorowitsch Paskewitsch, er war einer der Immobilienkönige von Moskau und hatte es Anita sehr übelgenommen, dass sie seine vielversprechenden Geschäfte mit Ferienhäusern in Südkarelien torpediert hatte.
Mein Handy klingelte erneut. Wieder Anita. Sollte sie es ruhig versuchen. War sie verängstigt, fürchtete sie sich vor jedem vorbeifahrenden Auto, zuckte sie zusammen, wenn ihr jemand entgegenkam? Oder hatte sie sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert? Unser Chauffeur Sergej Schabalin hatte uns bisher treu gedient, aber vermutlich war auch er käuflich, wenn der Preis stimmte. Anita hatte immer gewusst, dass die beste Garantie für ihre Sicherheit darin bestand, mehr zu zahlen als andere. Sie bildete sich ein, alle Menschen verhielten sich so wie sie, jeder sei nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ich hatte ihr bewusst die starke und wachsame, aber nicht übermäßig intelligente Frau vorgespielt. Alle ihre Unternehmungen und Treffen hatte ich genauestens registriert, angeblich, um so gut wie möglich für ihre Sicherheit garantieren zu können. Doch mit den Informationen, die ich gesammelt hatte, könnte ich ihr das Leben zur Hölle machen, wenn ich es wollte.
Trotz des deftigen Essens waren mir der Wodka und das zweite Bier zu Kopf gestiegen. Ich zahlte und brach zu einem kleinen Spaziergang auf. Es dämmerte bereits, auf den Straßen drängten sich die Menschen. An einem Kiosk kaufte ich eine Cola und eine Flasche Mineralwasser. Das Foto von Premierminister Putin prangte auf der neuesten Ausgabe der Prawda , in der er die Situation in Georgien kommentierte. Paskewitsch zählte zu Putins Anhängern; auch deshalb fürchtete Anita sich vor ihm.
«Kak djela, dewuschka?» , fragte ein Mann neben mir. Ich warf ihm nur einen kurzen Blick zu, um mich zu vergewissern, dass er keiner der mir bekannten Gorillas von Paskewitsch war.
«Für dich bin ich kein Mädchen», knurrte ich auf Finnisch und ging weiter, während der Mann mir noch einmal «Dewuschka» nachrief. Hielt er mich etwa für eine Prostituierte? Mein Äußeres gab dazu bestimmt keinen Anlass. Ich war eins achtzig groß, wog siebzig Kilo und trug die Haare jungenhaft kurz geschnitten. Meine Kleidung war meinem Beruf angemessen: Jeans, kurze Lederjacke und Pilotenstiefel mit
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