Die Leibwächterin (German Edition)

trinken. Aber wahrscheinlich würde ich den Rest des Tages vor Jennis Fernseher verbringen.
    Es war kaum Post gekommen: Autoreklame und ein Briefumschlag mit meinem Namen und meiner Adresse, aber ohne Absender. Der Briefstempel war schwer zu entziffern. War es ein spanischer? Bei dem Umschlag handelte es sich um ein gewöhnliches weißes Kuvert, wie sie überall auf der Welt millionenfach verkauft wurden. Es schien eine Karte zu enthalten. Ich brachte die Geduld auf, eine Schere aus der Küche zu holen und den Umschlag aufzuschneiden, wobei ich sorgfältig darauf achtete, den Inhalt nicht zu beschädigen.
    Es war eine Doppelkarte, die sich aufschlagen ließ wie ein Buch. Die Vorderseite schmückte ein Luchs, darunter stand «el lince iberico». Der handschriftliche Text auf den Innenseiten war dagegen schwedisch.
    «Liebe Hilja, herzliche Grüße aus dem südlichsten Verbreitungsgebiet des Iberischen Luchses. Es hat mich fast drei Monate gekostet, meine Verbrennungen auszukurieren und meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Ich wohne im Gebirge, in einer kleinen Hütte, die an dein Ferienhaus in Degerby erinnert. Das Schutzgebiet für Luchse ist sechzig Kilometer entfernt. Die nächste größere Stadt heißt Huelva, und um sie zu erreichen, fliegt man am besten nach Sevilla. Dort warte ich auf dich. Du erreichst mich unter der E-Mail-Adresse lo.lynx(at)hotmail.com. Komm so schnell du kannst, ich habe entsetzliche Sehnsucht nach dir.»
    Zuerst wollte ich meinen Augen nicht trauen. War das ein grausamer Scherz? Diese Geschichte konnte doch definitiv nicht gut ausgehen. Ich las die Karte ein zweites und ein drittes Mal. Als mir endlich klarwurde, dass David seine tollkühne Mission tatsächlich überlebt hatte und mich in Spanien erwartete, brüllte ich so laut, als hätte ich gerade das entscheidende Tor bei der Fußball-WM geschossen. Aber es war ja David gewesen, der Gezolian und Wasiljew geschlagen hatte, und ich hatte nichts dagegen, seine Siegertrophäe zu sein. In aller Eile schaltete ich den Computer ein und informierte mich über die schnellste Verbindung nach Sevilla. Um fünf Uhr ging ein Flug mit Zwischenstopp in Madrid, ich konnte noch am selben Abend in Sevilla ankommen. Nachdem ich das Ticket gebucht hatte, schickte ich eine Mail an lo.lynx.
    «Lieber Lo, ich bin heute Abend um fünf nach elf in Sevilla. Ich habe immer noch dieselbe Telefonnummer. Schick mir eine SMS, ob du mich abholst oder wie ich von dort weiterfahren soll. In Madrid muss ich umsteigen. Deine Hilja.»
    Ich packte das Nötigste ein. Meine Glock konnte ich nicht mitnehmen, nur den Schlüssel zum Waffenschrank. Dann kündigte ich per E-Mail meinen Job. Das würde Ärger geben, doch es war mir egal. Ich gab meinem Luchsbild an der Wand einen Abschiedskuss und tänzelte durch den Schneeregen zur Bushaltestelle. Beim Einsteigen lächelte ich den Fahrer so strahlend an, dass er mich wahrscheinlich für verrückt hielt. Auch die anderen Fahrgäste starrten mich an. Ich musste mich bremsen, um nicht allen zu verkünden, was passiert war. Nur noch ein paar Stunden, dann würde ich David wiedersehen.
    An der Sicherheitskontrolle umarmte ich alle meine Kollegen. Da ich nicht mit leeren Händen zu David kommen wollte, kaufte ich ihm als Mitbringsel ein T-Shirt in Größe XXL mit einem Luchs auf der Brust. Kurz bevor ich an Bord ging, bekam ich eine SMS. «Liebe Hilja, ich hole dich in Sevilla am Flughafen ab. Bald sehen wir uns. Lo»
    Im Flugzeug versuchte ich zu schlafen, doch daraus wurde natürlich nichts. Ich trank einen Piccolo, obwohl ich schon beschwingt genug war. Nach dem Umstieg in Madrid begann ich, die Minuten zu zählen. Ich konnte nicht schlafen und nicht einmal Musik hören, mein Kopf war einfach zu voll. Unter mir lag Spanien, ein riesiges, von Lichterketten durchzogenes Land, das kein Ende nehmen wollte. Nach der Landung dauerte es eine Ewigkeit, bis die Koffer ausgeladen wurden, jedenfalls kam es mir so vor.
    David erwartete mich in der Ankunftshalle, und als ich ihn sah, stürmte ich auf ihn zu. Er roch wie früher, seine Lippen schmeckten vertraut, seine Haut hatte die alte Wärme. Der Luchs hatte seinen Partner gerufen, und sein Ruf war gehört worden.

Über Leena Lehtolainen
    Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet in Degerby, westlich von Helsinki. Bekannt wurde sie mit ihrer Krimireihe um die Anwältin und Kommissarin Maria Kallio. Leena Lehtolainen ist eine der erfolgreichsten und renommiertesten