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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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belastenden Kopfschmerzen, mit denen sie so viele Monate gelebt hatte, waren weg. Einfach weg.
    Sie wußte, was sie sagen wollte. Zumindest ihr Kopf wußte es. Daß sie mit Morse sprechen wollte. Doch dann stellte sich heraus, daß das, was sie sich im Kopf zurechtgelegt hatte, nichts mit dem zu tun hatte, was sie dann sagte:
    «Tausendeins, tausendzwei...»
    Aber schreiben konnte sie.
    Wie war das möglich, wenn sie nicht sprechen konnte? Egal. Sie konnte schreiben.

    Julia Stevens war selbst an der Schwelle des Todes noch eine attraktive Frau. Morse berührte mit einer Hand leicht ihren rechten Arm und lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück, aber das Lächeln war angespannt, weil sie all ihre Willenskraft aufbot, das, was ihr so wichtig war, so zu sagen, daß er es verstand.
    Als sie in Brendas Wohnzimmer machtlos vor einer Tat gestanden hatte, aus der es kein Zurück mehr gab, hatte sie sich geschworen, notfalls alle Schuld auf sich zu nehmen. In ihrem Kopflagen die Worte bereit. Worte, die eine Lüge waren, die es aber nun auszusprechen galt. Was ihr bestimmt auch gelingen würde, wenn sie es sich immer wieder vorsagte: «Ich habe ihn umgebracht, ich habe ihn umgebracht...» Sie sah zu Morse hoch und zwang ihren Mund, die Worte zu formen:
    «Tausenddrei, tausendvier, tausendfünf...»
    Noch während sie sprach, begriff sie offenbar, daß der Versuch gescheitert war. Verzweifelt suchte sie nach dem Bleistift, mit dem sie vorhin den Namen «Morse» geschrieben hatte. Ihr rechter Arm ruderte wild und stieß das Glas Orangensaft auf dem Nachttisch um. Frustrierte Tränen stiegen ihr in die Augen.
    Und dann waren drei Krankenschwestern bei ihr, drei Gestalten in Weiß. Zwei versuchten sie festzuhalten, während die dritte ihr ein weiteres Beruhigungsmittel verabreichte. Und Morse, der gern noch einen zarten Kuß auf das rote Haar gedrückt hätte, wurde hastig aus dem Krankenzimmer gescheucht.

67

    Wir können beweisen, was immer wir wollen; die einzige wirkliche Schwierigkeit besteht darin, zu wissen, was wir beweisen wollen.
    (Emile Chartier, Système des beaux arts)

    Der Fall näherte sich nun zügig seinem Abschluß. Noch fehlten viele Antworten, von denen die meisten sich fanden, obschon nicht nur Lewis sich fragte, was genau Morse eigentlich finden wollte. Ein, zwei kleinere Überraschungen standen noch bevor, aber im Grunde waren es nur zusätzliche bestätigende Details, die dank gründlicher forensischer Untersuchungen und in ein oder zwei recht unangenehmen Gesprächen an den Tag gebracht werden konnten.
    Morse hatte ein Buch in der Hand, als Lewis am Dienstag, dem 4. Oktober, kurz nach drei Uhr nachmittags aus dem Krankenhaus zurückkam, wo er Kevin Costyn vernommen hatte, dessen Zustand sich erheblich gebessert und gegen den er auf Anhieb eine heftige Abneigung gefaßt hatte — so wie es Morse zunächst auch mit Miss Smith gegangen war.
    Wesentliches hatte Lewis von ihm nicht erfahren. Was den Rammbruch betraf, hatte sich Costyn auf seine pampige Art wohl oder übel zu einer Aussage bequemt, Fragen nach seinem (sehr wahrscheinlichen) Besuch im Pitt Rivers Museum aber, seiner Beziehung (Beziehung?) zu Mrs. Stevens, seinem (möglichen) Wissen um den Mord an Edward Brooks, seiner Verwicklung, seiner Komplizenschaft tat er mit einem flapsigen Schulterzucken ab.
    Er hatte nichts zu sagen. Wie auch? Er wußte nichts.
    Wenn Lewis zu fünfundneunzig Prozent davon überzeugt war, daß Costyn log, war er zu hundert Prozent davon überzeugt, daß Ashley Davies, den er am Vortag vernommen hatte, den Schaukasten Nummer 52 nicht aufgebrochen hatte. Davies war zwar an jenem Nachmittag tatsächlich in Oxford gewesen — und zwar von 15.45 bis 16.45 Uhr hatte aber in diesen sechzig Minuten auf dem Behandlungsstuhl von Mr. Balaguer-Morris in Summertown gesessen, einem angesehenen und über jeden Verdacht erhabenen Kieferchirurgen.
    Quod erat demonstrandum.
    Die beiden jungen Männer waren deshalb nach Lewis’ Meinung (die Morse teilte) allenfalls Randfiguren im Mordfall Edward Brooks. Irgend jemand aber war im Pitt Rivers gewesen, irgend jemand hatte bei der Beseitigung der Leiche geholfen. Brooks war zwar kein besonders schwerer Brocken, aber eine Frau allein wäre kaum mit ihm fertig geworden. Für zwei war es schon leichter, zu dritt hätten sie es wahrscheinlich ziemlich mühelos geschafft, aber ein kräftiger junger Mann wäre ihnen sicher hoch willkommen gewesen...
    Die drei Haftbefehle waren anstandslos

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