Die Leiche am Fluß
«Aber konkrete Ideen haben Sie noch nicht, Sir?»
«Wie?» Morse trat ans Fenster, schien aber weniger herauszusehen, als in sich hineinzuhorchen. «Ich war mal bei einer Podiumsdiskussion von Schriftstellern, Lewis, die sich zu einer interessanten Frage äußern mußten: Wie wichtig ist der Titel für ein Buch?»
« Der Wind in den Weiden — das ist für mich nach wie vor ein Knüller.»
«Die Teilnehmer fanden allesamt, daß der Titel das Allerschwierigste an einem Buch ist; zum Schluß aber meldete sich eine Frau und sagte, sie sähe das Problem ganz anders. Sie habe ein halbes Dutzend toller Titel, nur keine Bücher dazu. Mir geht es genauso, Lewis. Ich habe jede Menge Ideen, aber nichts, woran ich sie festmachen könnte.»
«Noch nicht.»
«Noch nicht», wiederholte Morse.
«Glauben Sie, daß Phillotson uns irgendwas vorenthält?»
«Phillotson? Der weiß ja noch nicht mal, was er machen soll, wenn einer mit bluttriefendem Messer zu ihm kommt und verkündet, er hätte gerade seine Alte umgebracht.»
Das würde dir nie passieren, dachte Lewis. Aber er behielt es für sich.
«Jetzt würde mich aber allmählich Ihre zweite große Entdeckung interessieren.»
«In zehn Minuten bin ich soweit, Sir.»
Morse schlenderte indes durch die von der Firma Adkinson mit so eindrucksvollen Bezeichnungen belegten Räume — Wohn-Eß-Bereich; modernste Einbauküche; Garderobe; Gästetoilette; Gästezimmer; Schlafzimmer; Luxusbad konnte sich aber offenbar auf nichts so recht konzentrieren und kehrte sehr schnell wieder zum Tatort zurück.
Lewis hatte diese Zeit gewinnbringend verbracht. Seine kleine Akte — drei von einer Büroklammer zusammengehaltene Blätter — war komplett. Er war recht zufrieden mit sich und hoffte, mit seinem Fund auch Morse etwas heiterer stimmen zu können.
Der stand mit saurem Gesicht vor dem Bücherregal, nahm scheinbar aufs Geratewohl weitere Bücher heraus, sah kurz auf die Titelseite, packte sie am Rücken und schüttelte kräftig, als erwarte er, daß etwas herausfallen würde. Und in diesem Moment fiel tatsächlich etwas heraus — nämlich sämtliche Seiten, so daß Morse nur noch die Buchdeckel in der Hand hielt. Vor dem finsteren Gesicht des Chief Inspector verkniff sich Lewis das Lachen und jeden Kommentar.
Nur bei einer Titelseite hatte sich Morse ein wenig länger aufgehalten:
DIE PEST IN ATHEN
Ihre Auswirkungen auf Verlauf und
Führung des Peloponnesischen Krieges
Von
Dr. phil. Felix Fullerton McClure M. A.
Professor am Wolsey College, Oxford
Falsch.
Ehemals Professor am Wolsey College, Oxford...
Um 17.45 Uhr klopfte PC Roberts, und Morse bat ihn barsch herein.
«Grad hat der Super durchgerufen, Sir...»
«Angerufen», sagte Morse halblaut.
«Ich sollte Ihnen gleich Bescheid geben. Es ist wegen Mrs. Phillotson, Sir. Sie ist heute nachmittag gestorben. Nach einer zweiten Notoperation. Mehr hat er nicht gesagt.»
Morse ließ sich langsam in den Ledersessel sinken und vertiefte sich in das Teppichmuster. Die gewöhnlich so scharf und kritisch blickenden Augen waren stumpf und hilflos, und sein Gesicht verriet einen wütenden Selbsthaß. So hatte Lewis ihn noch nie erlebt.
Fünf Minuten später machte Lewis dem Inspector ein Angebot, das bisher noch nie abgelehnt worden war.
«Gehen wir ein Bier trinken, Sir? Das King’s Arms an der Ecke ist auf. Ganztägig geöffnet, steht dran.»
Morse schüttelte den Kopf und brütete weiter dumpf vor sich hin.
Lewis beschäftigte sich noch eine Weile mit der Zusammenstellung seiner Akte, die längst fertig war. Hätte er sich über seinen Vorgesetzten wundern sollen? Lewis wunderte sich ganz und gar nicht.
Morgen war Donnerstag.
Der Tag darauf war Freitag.
Den Mann, der Donnerstag war, und die Frau, die Freitag hieß, hatten sie heute schon vorweggenommen. Doch in diesem Moment hatten die beiden Kriminalbeamten, die dort in der Wohnung in Daventry Court saßen, noch keine Ahnung, wie wichtig eine dieser Persönlichkeiten bald werden sollte.
11
Sie, schönste Dame, färben sich sicherlich nicht das Haar, um die anderen oder auch nur sich selbst zu täuschen; sondern nur, um Ihr eigenes Bild im Spiegel ein wenig zu betrügen.
(Luigi Pirandello, Enrico IV)
Als Eleanor Smith den Hörer zum zweitenmal aufgelegt hatte, sah auch sie auf den Teppich herunter, einen abgetretenen Teppich mit geschmacklosem Blumenmuster, der einen knappen halben Meter vor der verschrammten Scheuerleiste endete.
Die Anrufe waren nicht
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