Die Leiche am Fluß
ihr Leben sonst einem Laufrad der Fleischeslust glich.
Eine Vaterfigur.
Ein Pflegevater vielleicht.
Aber kein Stiefvater - nein, das nicht. Um Himmels willen...
Sie stellte sich vor den Spiegel des altmodischen Ankleidetisches. Wie blaß sie war! Und das dunkle Haar mit den rötlich-orangefarbenen Strähnen war stumpf. Billig sah das aus. So billig, wie sie sich fühlte. Und als sie das ovale Gesicht in die Hände stützte und mit den Zeigefingern über die silbernen Nasenringe strich, blickten die schlämm grünen Augen ihres Spiegelbildes sie müde an, mit einem Ausdruck von Langeweile und Unaufrichtigkeit.
Unaufrichtigkeit?
Allerdings. Denn im Grunde hatte sie sich eben doch nicht allzuviel aus McClure gemacht, in letzter Zeit war er ihr sogar ziemlich auf den Geist gegangen, weil er sie ständig ganz für sich haben wollte, sie mit seinen Ansprüchen unter Druck zu setzen versuchte, im unpassendsten Augenblick anrief — einmal in einem sehr unpassenden Augenblick. Er war tyrannisch geworden und hatte darüber seinen Humor, seine Heiterkeit verloren. Na ja, manche Männer waren eben so.
Pech gehabt!
Also mal ehrlich, sagte ihr Spiegelbild spöttisch, im Grunde bist du doch froh, daß es vorbei ist...
Nachdenklich betrachtete sie ihr orangerot gestreiftes Haar. Waren diese kruden Strähnen vielleicht nur die äußere Entsprechung für eine innere Einstellung, die durchaus auch etwas Grausames hatte?
12
Vor Schwierigkeiten davonzulaufen ist eine Form der Feigheit; es stimmt zwar, daß der Selbstmörder mutig dem Tod die Stirn bietet, aber er tut es nicht um eines edlen Zieles willen, sondern um einem Übel zu entgehen.
(Aristoteles, Nikomachische Ethik)
Morse hatte sich am vergangenen Abend im King’s Arms in der Banbury Road vier Pints Best Bitter zu Gemüte geführt (und daraufhin den Gürtel ein Loch weiter schnallen müssen), denen er in seiner Junggesellenwohnung in North Oxford (schon im Pyjama) noch eine halbe Flasche seines geliebten Glenfiddich hatte folgen lassen.
Es verwundert deshalb kaum, daß er nicht besonders fit war, als Lewis ihn am nächsten Morgen abholte, und auf der Fahrt nach Leicester nur allzugern seinem Sergeant das Steuer überließ.
Während der Jaguar durch die Vororte rollte, sah Morse noch einmal den inzwischen aus vier Stücken bestehenden Fund von Lewis durch. Ja, hatte der Chief Inspector zu dessen Genugtuung bestätigt, die Unterlagen könnten durchaus von Bedeutung für den Fall sein. Im übrigen warfen sie ein bezeichnendes Licht auf die trübe Alkohol-Drogen-Sex-Szene, die sich seit einiger Zeit in Teilen der Hochschule breitmachte. Das erste Dokument war ein vor vierzehn Monaten, am Dienstag, dem 8.Juni 1993, in der Oxford Mail veröffentlichter Artikel.
Studenten-Selbstmord
drogenbedingt?
Bei der gestrigen gerichtlichen Untersuchung befand Coroner Arnold Hoskins im Falle des Todes von Mr. Matthew Rodway, eines Oxforder Anglistikstudenten im dritten Studienjahr, auf Selbstmord.
Rodways Leiche war am Freitag, dem 21. Mai, in den frühen Morgenstunden von einem Hausdiener unter dem Fenster seines Zimmers im dritten Stock im Drinkwater Quad des Wolsey College gefunden worden.
Bei den anläßlich der gerichtlichen Untersuchung verlesenen Aussagen gab es gewisse Unstimmigkeiten, wobei die Vermutung geäußert wurde, Mr. Rodway sei möglicherweise nach einem ziemlich wilden Trinkgelage in seinem Zimmer in Aufgang G versehentlich aus dem Fenster gestürzt. Fest steht, daß Mr. Rodway in den vorangegangenen Wochen oft in depressiver Stimmung gewesen war; offenbar machte er sich Sorgen wegen der bevorstehenden Abschlußprüfung.
Unbestritten ist, daß Rodway sich Kreisen angeschlossen hatte, in denen regelmäßig Drogen konsumiert wurden.
Dr. Felix McClure, einer von Rodways Tutoren, wurde zu einem unbeendeten Brief befragt, den man in Rodways Zimmer gefunden hatte und in dem er unter anderem schrieb: «Ich habe das alles so satt.»
Dr. McClure erklärte, man könne aus diesem Satz durchaus ambivalente Schlüsse ziehen, stimmte aber der Ansicht des Coroner zu, der die naheliegendste Erklärung darin sah, daß Rodway sich das Leben genommen hatte.
Der pathologische Befund erhärtete, daß Rodway regelmäßig Drogen genommen hatte, doch bislang deutet nichts darauf hin, daß er besonders suizidgefährdet gewesen wäre.
In seiner Zusammenfassung unterstrich der Coroner die Verwerflichkeit des Drogenhandels und erklärte, die leichte Verfügbarkeit von
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