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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Lewis.»
    «Wenn Sie das sagen, Sir...»
    «Auch daß sie nicht mehr so gut sieht wie früher, ist gelogen. McClures Besucherin konnte sie genau beschreiben. Auf zwanzig Meter Entfernung hat sie den Nasenring erkannt.»
    «Warum glauben Sie eigentlich nicht, daß sie diese Beschreibung frei erfunden hat?»
    «Gute Frage.» Morse sah nachdenklich auf den Teppich herunter. «Die Beschreibung klang irgendwie überzeugend. Es war so mit das einzig Brauchbare, was sie uns geliefert hat.»
    «Aber was ist mit...»
    «Lewis! Sie ist eine Schwindlerin! Sie war nie Krankenschwester, geschweige denn Mutter Oberin oder wie immer man so was heutzutage nennt.»
    «Wie kommen Sie darauf?»
    «Minirock bis zur halben Tibia, habe ich gesagt. Tibia ist bekanntlich das Schienbein. Sie wissen das, Lewis. Aber sie hat den Unsinn widerspruchslos geschluckt.»
    «Es sei denn, sie hat das Wort wegen ihrer Schwerhörigkeit nicht richtig mitgekriegt.»
    «Die Frau ist nicht die Spur schwerhörig, wie ich Ihnen schon erklärt habe. Sie kennt nur den Unterschied zwischen Tibia und Fibula nicht. Die hat in ihrem Leben noch kein Lehrbuch der Krankenpflege in der Hand gehabt.»
    «...und sich damit prompt von Ihnen auf den Leim locken lassen.»
    «Aber was das wichtigste ist, Lewis: Sie behauptet, ein Archers- Fan zu sein, weiß aber nicht mal, wann sonntags die Wiederholung gesendet wird.»
    «Also... ich weiß auch nicht, wann die Wiederholung...»
    «Sie lebt in einer Phantasiewelt und erzählt sich und anderen Märchen, die sie schließlich selber glaubt. Die für sie die Wahrheit sind.»
    «Für uns aber nicht.»
    «Nein, für uns nicht.»
    «Nicht einmal die Zeit, wann sie im Bad war?»
    « Wenn sie im Bad war.»
    «Oh.»
    «Aber ich denke, es ist für uns sowieso nicht so wichtig, um welche Zeit der Mörder ins Haus kam...»
    Morse hatte, wie vorhin Miss (oder Mrs.) W.-W., offenbar ein bißchen abgebaut.
    Beide Männer schwiegen wieder.
    Die «zweite Sache», die er für Morse gefunden hatte, versprach jetzt noch bedeutsamer zu werden. Lewis war mit sich zufrieden.
    Morse rührte sich nicht; er hielt unentwegt den schmalen Band in der Hand und schaute mit melancholischer Miene auf die aufgeschlagene Seite — es war immer noch dasselbe Gedicht.

8

    Caeli, Lesbia nostra, Lesbia ilia,
    ilia Lesbia, quam Catullus unam
    plus quam se atque suos amavit omnes:
    nunc in quadriviis et angiportis
    glubit magnanimi Remi nepotes.

    (Meine Lesbia, Caelius, jene Lesbia,
    jene Lesbia, die Catullus einzig
    mehr als sich und die Seinen all geliebt hat:
    jetzt in winkligen Gäßchen und am Kreuzweg
    saugt sie aus des erhabnen Remus Enkel.)
    (Catull, LVIII)

    Als Fünfzehnjähriger hatte sich Morse heftig in ein Mädchen verliebt, das ein Jahr jünger war als er und ebenfalls ein Stipendium für das Gymnasium bekommen hatte — er fürs Jungengymnasium, sie fürs Mädchengymnasium. Die Beziehung war so wichtig für seine Entwicklung, so entscheidend, so wunderbar gewesen, daß er drei Jahre später, als er zum Wehrdienst einberufen wurde, die ersten zwölf Wochen täglich einen Brief an dieses Mädchen schrieb — bis er bei seinem ersten Wochenendurlaub durch Zufall erfuhr, daß einer seiner Freunde (Freunde!) sich mit unverhohlener Anerkennung über die sinnlichen Lippen seiner Liebsten geäußert hatte.
    An jenem Wochenende war Morse erwachsen geworden, und das war gut so. An jenem Wochenende hatte er aber auch gemerkt, daß er einen schier grenzenlosen Hang zur Eifersucht hatte.
    Erst viele Jahre später hatte er in einem Bed & Breakfast in Maidstone einen weisen Spruch gelesen, der als bunte Seidenstickerei die Wand verzierte:

    Wenn du sie liebst, gib sie frei.
    Wenn sie dich liebt, kehrt sie froh zu dir zurück.
    Wenn sie nicht zurückkehrt, hat sie dich nie geliebt.

    Das waren die Gedanken, die Morse bewegten, als er sich jetzt noch einmal das Gedicht LVIII vornahm. Sein Lateinlehrer hatte seinerzeit der Klasse anempfohlen, es zu ignorieren, da es ihm gänzlich an künstlerischem Wert fehle. Diese Mahnung erfolgte meist, wenn das fragliche Gedicht Geschlechtliches ansprach, und gleich nach der Stunde hatten Morse und seine Mitschüler sich bemüht, den Sinn des merkwürdigen Wortes zu ergründen, das Catull an den Anfang der letzten Zeile gesetzt hatte.
    Glubit.
    In dem kleineren lateinischen Lexikon stand unter glubo, — ere nur «lüstern Erregung wecken». Die größere Ausgabe aber enthielt eine Definition, die zwar kryptisch verschleiert war,

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