Die Leichenuhr
weitersprechen wollte. Ich konzentrierte mich wieder auf ihn. »Mir war klar, daß ich durch meinen Tod das Problem nicht lösen konnte, und so überlegte ich, ob es nicht einen Mann gab, der stark genug war, diese Uhr zu zerstören, wenn ich einmal nicht mehr war. Ich muß dazu sagen, daß die Zeiten sehr wild gewesen sind, von einer Ruhe war nichts zu spüren. Es gab viele Länder, Grafschaften, Herzogtümer und Provinzen. Es gab auch die Kirche, die über allem schwebte. Ich traute mich nicht, ihr meine Bitte vorzutragen, denn man hätte mich als Ketzer verdammt und hingerichtet. Nach langem Überlegen fiel mir jemand ein, der nicht in direktem Kontakt zur Kirche stand, aber sehr gut Bescheid wußte und ein Feind der Hölle und ihrer schrecklichen Dämonen war. Er war ein Templer, nicht nur das, er gehörte sogar zu den Anführern, er war sehr mächtig, und man achtete seine Reden sehr. Er hieß – Hector de Valois…«
Komisch, ich war nicht einmal so überrascht. Den letzten Worten nach zu urteilen, hatte es für mich keine andere Lösung gegeben. Es hatte mächtige Templerführer gegeben, doch nur einen aus der Vergangenheit, der einen so direkten Kontakt zu mir hatte wie eben Hector de Valois, der in mir wiedergeboren war.
Sollte ich etwas sagen? Wartete diese Gestalt darauf, daß ich meinen Kommentar abgab?
Als ich sie anschaute, glaubte ich nicht mehr daran, denn Gallio machte auf mich den Eindruck einer Person, die zu sehr in ihre eigenen Probleme verstrickt war. Er hatte den Kopf gesenkt und bewegte ihn dabei. Er stöhnte leise, und als er seinen Kopf wieder anhob, war sein Gesicht von tiefen Sorgenfalten gezeichnet. Es schien ihm schwerzufallen, über die Vorgänge der Vergangenheit zu sprechen. Er riß sich wieder zusammen und murmelte noch einmal den Namen meines ›Ahnherrn‹.
»Was war mit ihm?«
»Ich gab ihm Bescheid«, hörte ich seine Geisterstimme. »Ich schickte gleich drei Boten los und entlohnte sie fürstlich, damit ich sicher sein konnte, daß er auch gefunden wurde. Doch alle drei enttäuschten mich. Sie kehrten nicht einmal mehr zu mir zurück. Vielleicht sind sie mit dem Lohn verschwunden oder aber in den Wirren der zahlreichen Kriege zwischen den einzelnen Ländern umgekommen. Ich jedenfalls habe es nicht gewußt, für mich war alles schrecklich gewesen, weil immer mehr Zeit verging und ich tiefer und tiefer in diesen Strudel hineingeriet. Ich hatte mich verändert. Ich ging keiner Arbeit mehr nach. Ich verkam immer mehr. Ich konnte nur noch an die Uhr denken und an die erste Stunde des Tages. Darauf wartete ich. Da konnte ich mich entfalten, da hatte man mir die Chance gegeben, mit der Zeit zu spielen, was ich immer wieder bis zur letzten Sekunde ausnutzte. Glücklich wurde ich nicht, im Gegenteil, ich verfiel immer mehr. Hector de Valois kam nicht, doch es mußte eine Lösung geben. Wenn ich schon nicht die Uhr vernichten konnte, dann mußte ich selbst aus dem Leben scheiden. Ich faßte einen Plan.« Er drehte den Kopf und schaute zu dem zweigeteilten Zeiger. »Siehst du ihn?« fragte er mich.
Ich bejahte.
»Er genau brachte mich auf die Idee.«
Mehr sagte Gallio nicht. Dafür bewegte er sich auf die Uhr zu. Ich rechnete mit einer Demonstration, aber ich rechnete nicht mit dem, was plötzlich geschah.
»Es ist die Stunde nach Mitternacht«, erklärte er mir, während er auf einen Hocker stieg, der neben der Uhr stand. Die weiße Gestalt reckte beide Arme, damit sie mit den Händen die Umrandung zu fassen bekam.
Ziemlich weit oben griff sie zu und nutzte sie als Stütze. »Es ist die Zeit der Magie«, erklärte Gallio weiter. »Sie müßte ich nutzen…«
Er kletterte weiter.
Schon bald hielt er sich an dem Zeiger fest. Er war so stabil, daß er sich nicht einmal verbog. Chronos glitt auf den Zeiger zu und beugte sich über seine Spitze.
Jetzt wußte ich, was er vorhatte. »Was ist mit der Uhr?« rief ich. »Du hast sie nicht zerstören können…«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Was geschah mit ihr? Existiert sie noch?«
»Ja, es gibt sie. Man kann sie nicht zerstören. Sie ist heute noch so wie damals. Hector de Valois hat sie zerstören sollen, doch er ist nicht gekommen, nur in meinen Träumen. Als Gestalt zwischen den Welten habe ich dich erreicht. Du bist derjenige, der sie vernichten kann. Du bist der zweite Hector, du wirst es bestimmt schaffen…«
»Wo kann ich sie finden?«
»Ein Mann hat sie. Er nimmt sie mit. Er ist weit weg. Er heißt Tonio – Tonio
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