Die leichten Schritte des Wahnsinns
Riesengarnelen und anderen Köstlichkeiten gefüllten Silbertabletts.
»Ich weiß nicht, ob Vegetarier Kaviar essen«, erklärte Wolkow mit charmantem Lächeln.
Lena übersetzte.
»Nein, Vegetarier essen keinen Kaviar, aber ich bringe es nicht über mich, nein zu sagen«, gestand Michael. »Noch nie habe
ich Kaviar in solchen Mengen gesehen.«
Die Explosion des Kinderwagens war für ihn keine Neuigkeit. Aber er hat auch nicht versucht, Erstaunen und Entsetzen zu heucheln,
er verbirgt gar nicht, daß er vieles weiß, dachte Lena und bestrich eine geröstete Scheibe Roggenbrot mit Preßkaviar. Tobolsk
habe ich absichtlich ins Gespräch gebracht. Er hat nicht angebissen, obwohl er gekonnt hätte. Was soll das alles nur – der
Privatclub, die Berge von Kaviar, der sündhaft teure Kognak?
Plötzlich ging ihr auf, daß Olga recht hatte: Der großmächtige Produzent hatte sich auf seine alten Tage verliebt.
Aber was soll ich mit einem verliebten Wolkow anfangen? Solange ich so tue, als wäre ich zu allem bereit, bin ich nicht in
Gefahr. Und Lisa auch nicht. Aber wenn er begreift, daß seine Liebe mir gewaltig gegen den Strich geht? Auch er selber kann
mich umbringen. Wenn ich ihm sage, daß ich heute nacht mit Michael nach Sibirien fliege, fragt er garantiert, in welche Stadt.
Ich werde sagen, nach Tjumen, das ist ja auch die Wahrheit. Wenn jedoch nur seine eifersüchtige Ehefrau dahintersteckt, lohnt
es sich dann überhaupt, in Tobolsk die alten Adressen aufzusuchen?
»Lena! Warum übersetzt du nicht?« hörte sie Michaels Stimme. »Ohne dich sind wir wie taubstumm!«
»Entschuldigung, es schmeckt alles so lecker«, sagte sie und lächelte schuldbewußt.
»Ich versuche gerade, Wenjamin zu fragen, mit welcher Art von Geschäften er sich befaßt«, erläuterte Michael.
Lena schaltete sich wieder in das Gespräch ein, übersetzte, lachte und neckte ihre Gesprächspartner. Aber wirklich entspannen
konnte sie sich nicht. In ihrem Kopf hämmerte ununterbrochen die gleiche hoffnungslose Frage: Was soll ich nur tun?
Die Kombination von Wodka, Kognak, Gin Tonic und Likör war selbst bei dem üppigen Essen für Michael zu stark.
»Ich glaube, gleich fällt dein Professor vom Stuhl«, bemerkte Wolkow leise, als der Kellner den Kaffee brachte. »Ich hole
dich so gegen zehn ab, nach der Sendung. Der Professor wird bis zum Morgen durchschlafen, er wird gar nicht merken, daß du
nicht zu Hause übernachtet hast. Und falls er es doch merkt, wird er es deinem Mann nicht sagen.«
»Das ist unmöglich.« Lena schüttelte den Kopf. »Heute nacht fliegen wir nach Tjumen.«
»Ihr fliegt nach Tjumen?«
Sein Gesicht versteinerte. In seinem Blick erschien ein seltsamer, gehetzter Ausdruck.
Das war’s, dachte Lena entsetzt, ich werde nirgends mehr hinfliegen. Ich komme vielleicht nicht einmal mehr bis nach Hause.
Und Michael? Mein Gott, was für eine Idiotin ich bin! Ein Verliebter, der den Kopf verliert! Ich selbst habe den Kopf verloren.
Jetzt ist es aus.
»Und wie viele Tage werde ich dich nicht sehen?« Seine Stimme klang wie durch Watte.
»Zehn«, gab sie wie ein Echo zurück.
»Das ist schrecklich lange.« Nun blickte er nicht mehr gehetzt, sondern tieftraurig und düster.
Lena zog eine Zigarette aus der Schachtel und bemühte sich, ihm nicht in die Augen zu sehen. Er gab ihr Feuer, sie bemerkte,
wie die Flamme in seiner Hand zitterte.
»Wegen der Reise nach Sibirien ist Michael ja nach Rußland gekommen«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Er befaßt sich mit
russischer Geschichte und hat mich gebeten, ihm zu helfen und als Beraterin und Dolmetscherin für ihn zu arbeiten. Ich bekomme
zweihundert Dollar pro Tag, eine sehr anständige Bezahlung.«
»Ich werde dich zehn Tage lang nicht sehen«, sagte er leise. »Fährst du nur des Geldes wegen?«
»Weswegen sonst?«
»Ich kann dir so viel geben, wie du brauchst …«
»Wenja, ich bin gewohnt, mein Geld selbst zu verdienen. Die zehn Tage sind schnell herum, ehe du’s merkst, bin ich schon zurück.
Schließlich geht es nicht nur um das Geld. Ich habe es Michael versprochen, und du verstehst doch, daß man sein Versprechen
halten muß.«
»Ja«, sagte er, »das verstehe ich.«
Woher diese Hilflosigkeit, diese Verlorenheit? Dieser flehende Tonfall? Mein Gott, er hat ja sogar Tränen in den Augen! dachte
Lena, als sie sein blasses Gesicht, seine zitternden Hände sah. Er ist über Leichen gegangen und sitztjetzt vor mir wie ein
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