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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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kleiner Junge, der zum erstenmal eine ganze Woche im Kindergarten bleiben muß. Entweder ist er ein genialer
     Schauspieler, oder ich bin eine komplette Idiotin. Ich begreife ihn nicht.
    »Werdet ihr nur in Tjumen sein, oder fahrt ihr noch woandershin?«
    »Das weiß ich noch nicht. Michael interessiert sich für das sibirische Dorf. Wieso?«
    »Ich könnte mich für einen oder zwei Tage freimachen und nach Tjumen kommen. Weißt du, wo ihr wohnen werdet?«
    »Wenja, ich werde dort nicht eine Minute freie Zeit haben. Ich muß arbeiten. Du bist doch kein kleines Kind.«
    »Willst du nicht, daß ich komme?«
    »Ich rufe dich an. Und jetzt fahr uns bitte nach Hause. Michael muß ins Bett. Außerdem habe ich noch nicht gepackt.«
    Der Professor lag in seinem Stuhl, alle viere von sich gestreckt, und schnarchte friedlich. Wolkow nahm Lenas Hand in seine
     beiden Hände und küßte vorsichtig jeden ihrer Finger.
    »Du entgleitest mir«, flüsterte er, »du glaubst mir nicht, ich glaube ja auch niemandem außer dir. Du kannst dir nicht vorstellen,
     wie sehr ich dich liebe. Früher dachte ich, so etwas gibt es nicht, aber als ich dich sah, nach vierzehn Jahren – es gab so
     viel Blut und Dreck … früher … und jetzt auch noch. Ohne dich sterbe ich.«
    Er sprach wie im Fieber. Aus dem Augenwinkel sah Lena, wie der Kellner den Kopf durch die Tür steckte und sofort wieder verschwand.
     Die neuen Russen, die man dem amerikanischen Professor versprochen hatte, waren an diesem Abend im Club »C« nicht aufgetaucht.

Kapitel 26
    Pawel Sewastjanow, genannt Pascha, zweiundzwanzig Jahre alt und Mitglied der Jassenjew-Bande, saß zum erstenmal in seinem
     Leben in U-Haft. Man hatte ihm in der überfüllten Zelle den Platz neben dem Abtritt zugewiesen. Der Gestank und die Schwüle
     ließen ihn nicht einschlafen. Zu alledem hatte er auch noch die Krätze. Nachts lag er auf der Pritsche und starrte in die
     feuchte Dunkelheit der Zelle, kratzte sich bis aufs Blut und dachte, es wäre besser gewesen, man hätte ihn sofort, zusammen
     mit den anderen, geschnappt und nicht erst ein paar Tage später.
    Nach der Schießerei mit der Drossel-Bande im »Recken« konnte er als einziger fliehen und untertauchen. Die eigenen Leute hatten
     ihn dann verpfiffen. Nur sie wußten, daß er sich bei der Oma von Natascha versteckte, in Koptewo, einem alten, heruntergekommenen
     Dorf bei Tula. Die Bullen hätten weder die Oma noch Natascha ausfindig gemacht. Niemand wußte von ihrem Verhältnis, nicht
     einmal die Eltern.
    Hätte man ihn gleich mit den anderen gefaßt, könnte ihm jetzt niemand noch einen weiteren Mord in die Schuhe schieben. Der
     Sänger Asarow, der die Schießerei heil überstanden hatte, war nämlich umgelegt worden. Und wie man es auch drehte und wendete
     – er, Pascha Sewastjanow, war der Hauptverdächtige. Asarow war am Morgen erschossen worden, und ihn, Pascha, hatte man am
     späten Abend festgenommen. Ohne weiteres hätte er sich aus Koptewo nach Moskau davonstehlen und wieder zurückkommen können.
     Er hatte ein Motiv, und er hatte genügend Zeit. Zwar gab Nataschas Oma wahrheitsgemäß zu Protokoll, Pascha sei an diesem Tag
     nirgendwohin gefahren, sondern habe ihr Dach repariert, doch das zählte nicht. Niemand außer der Oma hatte ihn auf dem Dach
     gesehen. Und die Oma war blind, taub und neunzig Jahre alt. Siekonnte sich im Tag und in der Stunde und sogar in der Person irren.
    In der engen Zelle, unter dem allgemeinen Schnarchen, Stöhnen und schlaftrunkenen Gemurmel, dachte Pascha daran, daß die Bullen
     ihm mit Vergnügen den Mord an Asarow in die Schuhe schieben würden. Er hatte nicht die geringste Chance, sich herauszuwinden.
     Und das bedeutete – Höchststrafe, Tod durch Erschießen.
    Erst in der Morgendämmerung konnte Sewastjanow einschlafen. Die blutig gekratzte Haut juckte, er hatte Alpträume.
    In der Zelle stand man auf, die üblichen Geräusche wurden allmählich lauter: Husten, Ächzen, trübsinniges Fluchen. Jemand
     urinierte in die Tonne, die als Abtritt diente, und bespritzte Pascha. Eisen rasselte, dann begannen die Schüsseln mit der
     dünnen Gefängnissuppe zu scheppern. Pascha rieb sich die verklebten, trüben Augen und schüttelte den Kopf, um die letzten
     Reste des schweren Alptraums zu verscheuchen.
    »Sewastjanow! Zum Verhör!« hörte er durch das innere Rauschen und den Lärm in der Zelle jemanden rufen.
    Man führte ihn in eine leere Zelle. Hinter einem Tisch saß der Einsatzleiter

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