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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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gezogen. Immerhin ist sie schon neunzig. Verwandte, die sie zu sich nehmen könnten, hat sie nicht. Sie steht allein auf der
     Welt.«
    »Ganz allein ist sie nicht«, mischte sich ihre jüngere Kollegin ein. »Sie hat eine Tochter in Moskau. Die soll es angeblich
     weit gebracht haben.«
    »Ja, die Tochter«, sagte die ältere traurig. »Wir haben geschrieben, haben angerufen. Sie hat es nicht für nötig gehalten,
     herzukommen. Sie überweist Geld für den Unterhalt, aber besucht hat sie ihre Mutter nicht ein einziges Mal. Die Bedingungen
     im Altersheim sind natürlich gut, Valentina hat ein Einzelzimmer, manchmal gehen wir auch vorbei. Besuchen Sie sie doch, wenn
     Sie Zeit haben. Sie freut sich so über jeden Besuch.«
    »Sie wird sich kaum an mich erinnern«, meinte Lena kopfschüttelnd, »es ist schon so viele Jahre her.«
    »Sie erinnert sich bestimmt noch. Sie hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und auch wenn nicht, sie wird sich trotzdem freuen.
     Sie wissen doch, wie wichtig für alte Leute etwas Aufmerksamkeit ist.«
    »Gut«, sagte Lena, »geben Sie mir die Adresse, dann gehe ich hin.«
    »Sie können auch Ihren Professor mitnehmen. Besser als Valentina kennt niemand die Geschichte von Tobolsk. Außerdem liest
     sie bis heute englische und französische Bücher. Für sie wird das ein richtiger Festtag sein – mit einem Professor aus New
     York Englisch sprechen zu können.« Die ältere Bibliothekarin schrieb die Adresse auf einen Zettel und erklärte den Weg.
    Als Lena das Papier entfaltete und las: »Gradskaja, Valentina Jurjewna«, überlegte sie einen Augenblick. Es war weniger der
     Nachname, der sie stutzig machte, als vielmehr Vor- und Vatersname. Valentina Jurjewna, so hatte sich die falsche Ärztin genannt.
     Aber sie wies sich gleich wieder zurecht: Unsinn, das ist ein Zufall. So etwas kann nicht sein.
    ***
    Major Ijewlew kam spät nachts in Tjumen an. Fünf Stunden Schlaf reichten ihm. Um acht Uhr morgens wachte er auf, machte rasch
     seine Gymnastik, rieb sich nach alter Armeetradition bis zum Gürtel mit eiskaltem Wasser ab, frühstückte auf die Schnelle
     am Hotelbüfett und ging dann zur Staatsanwaltschaft. Den ganzen Tag saß er im Archiv und studierte die dicken Wälzer mit den
     zwölf Jahre alten Kriminalakten.
    Im Vergleich zu anderen Serienmördern war Nikita Slepak ein Waisenknabe. Er verhöhnte seine Opfer nicht, schnitt ihnen weder
     die Bäuche auf noch die Gliedmaßen ab, er aß auch keine Organe und spannte niemanden auf eine Folterbank. Seine Opfer waren
     keine kleinen Kinder,sondern junge Mädchen im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren. Vier waren erwürgt worden, zwei hatte er mit einem Messerstich
     ins Herz getötet. Alle waren zuvor vergewaltigt worden, allerdings nicht auf irgendeine pervertierte Weise.
    Als Serienmörder konnte man Slepak nur unter großem Vorbehalt bezeichnen. Sein erstes Opfer war die achtzehnjährige Galina
     Kuskowa aus Tjumen. Als fünftes Kind einer kinderreichen, mittellosen Familie litt Galina unter leichter Oligophrenie. Nach
     Abschluß der achtjährigen Hilfsschule fand sie nirgends Arbeit und verdiente sich ihren Lebensunterhalt durch Prostitution,
     obwohl es diesen Erwerbszweig Ende der siebziger Jahre in unserem Land bekanntlich gar nicht gab.
    Von der Fotografie blickte Ijewlew eine hinreißende Schönheit an, der reinste Hollywoodstar. Ihr ständiger Aufenthaltsort
     war das Restaurant »Moskowski«, das teuerste und schickste in der ganzen Stadt. Der niedrige Intelligenzquotient der Schönen
     irritierte ihre Kunden – solide Geschäftsreisende und reiche kaukasische Händler – nicht weiter.
    Ihre Leiche wurde im September 1979 auf einem verlassenen Grundstück in der Nähe des Neubaugebiets am Stadtrand gefunden.
     Die Experten stellten fest, daß der Tod durch Erwürgen eingetreten war. Vor dem Tod hatte sich das Mädchen in stark alkoholisiertem
     Zustand befunden und sexuellen Kontakt mit einem Mann gehabt. Seltsam war, daß der Mörder sich weder für ihr Geld noch für
     ihren Goldschmuck interessiert hatte. An ihren Fingern steckten noch drei teure Ringe, in den Ohren waren Ohrringe mit Saphiren.
     Neben ihr lag die verschlossene Handtasche mit Paß und dreihundertsiebzig Rubeln – keine geringe Summe für die damalige Zeit.
     Später stellte sich allerdings heraus, daß ein kleiner vergoldeter Glöckchen-Anhänger verschwunden war, den die Ermordete
     an einer dünnen silbernen Kette umden Hals getragen hatte. Aber

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