Die leichten Schritte des Wahnsinns
Gutes für mich zum Abendessen. Ich habe großen Hunger.«
»Etwas Leichtes oder etwas Sättigendes?« fragte die Köchin geschäftig.
»Lieber etwas Sättigendes. Haben wir Fleisch im Haus?«
»Mageres Schweinefleisch, ganz frisch. Ich war heute auf dem Markt.«
»Wunderbar. Mach mir ein gutes Schnitzel. Und reichlich Gemüse.«
Es war Mitternacht. Während sie auf das Essen wartete, zündete sich Regina eine Zigarette an, griff nach ihrem Handy und wählte
eine Nummer.
»Grüß dich, Grischa«, sagte sie, »entschuldige, daß ich so spät noch anrufe. Ich habe dich hoffentlich nicht geweckt?«
»Wo denkst du hin, Regina, der Abend hat doch gerade erst angefangen!« erwiderte eine muntere Falsettstimme.
»Hör mal, Wenja hat Grippe. Vierzig Fieber. Stell dir vor, er ist den ganzen Tag krank herumgelaufen und hat gearbeitet. Jetzt
liegt er bleich und schweißnaß im Bett, leidet und sagt, er hat möglicherweise irgendwas mit den Bankkonten verwechselt. Er
hat mich gebeten, dich anzurufen. Sieh doch morgen früh mal nach dem Rechten, kontrolliere über deine Kanäle, was da los ist.
Er scheint irgendeinen Vertrag verloren zu haben, so ganz habe ich das nicht verstanden. Leider habe ich von diesen Dingen
überhaupt keine Ahnung. Du machst das für mich, ja?«
Sie drückte die Handytaste und saß eine Weile unbeweglich, schaute nur konzentriert auf die im Kamin züngelnden Flämmchen.
Als Ljudmila das Essen brachte, klingelte das Telefon.
»Hast du mich gesucht?« hörte sie eine Stimme, bei deren Klang ihr Herz einen freudigen Sprung tat.
»Gottseidank«, sagte sie erleichtert in den Hörer.
»So sehr brennt es?« sagte die heisere Stimme spöttisch.»Du freust dich ja wie über einen verlorenen Sohn. Dabei haben wir uns doch erst kürzlich gesehen. Komm morgen um achtzehn
Uhr dreißig in den Sokolniki-Park. Zu dem Pavillon, du erinnerst dich?«
»Natürlich.« Regina lächelte.
Der nächtliche Anruf hatte ihren Appetit erheblich verstärkt. Das zarte, krosse Schnitzel verspeiste sie mit großem Behagen.
***
In Tobolsk quartierten sie sich im selben Hotel ein, in dem Wolkow sie vor vierzehn Jahren untergebracht hatte. Die Stadt
war mit ihren stabilen Holzhäusern noch genau so gemütlich wie damals. Sie hatte Lena auch früher schon besser gefallen als
das abgasverpestete, graue Tjumen mit seinen Plattenbauten.
Es gab noch viele alte, sogar historische Häuser, auch der berühmte hölzerne Kreml von Tobolsk war erhalten, der einzige in
ganz Sibirien. Dort befand sich eine umfangreiche, kostbare Bibliothek mit einzigartigen Magazinen. Vierzehn Jahre war es
nun her, daß Lena sie besucht hatte, und bis heute hatte sie diesen besonderen, aufwühlenden Geruch der alten Folianten nicht
vergessen können, einen Geruch, den es nur in stillen Provinzarchiven gibt. Wie die ältliche Bibliothekarin damals gesagt
hatte – in der Provinz atmet die Zeit anders, ruhiger und tiefer.
Als sie jetzt zusammen mit Michael den Bibliothekssaal betrat, erinnerte sich Lena wieder an diese alte Bibliothekarin, eine
kleine, runzlige Frau mit schneeweißen, kurzgeschnittenen Haaren, die sich fröstelnd in ein riesiges wattiertes Umschlagtuch
hüllte und die jungen Moskauer, die sich zu ihr verirrt hatten, in das Allerheiligste der Bibliothek führte. Anders als die
meisten Provinzbewohner beklagte sie sich nicht über das trostlose, alkoholgeschwängerte Leben in ihrer öden Stadt, im Gegenteil,
sie glaubte aufrichtig,daß man nirgends so gut leben könne wie in dem alten Tobolsk.
Ihr ganzes bewußtes Leben hatte sie zwischen Büchern verbracht, war nicht weiter gekommen als bis nach Tjumen. Frankreich
kannte sie durch Balzac, England durch Dickens und war überzeugt, die Welt viel besser zu kennen als jemand, der sie kreuz
und quer bereist hatte.
»Ich kenne viele Länder von innen, ich fühle ihre Seele. Natürlich würde ich gern den Louvre oder die Westminsterabtei sehen,
aber ich halte mich nicht für benachteiligt, weil ich sie niemals erblicken werde.«
In ihrer kleinen staubigen Kammer bewirtete sie die jungen Leute mit Tee und Moosbeerkonfitüre und erzählte ihnen die Geschichte
des sibirischen Kremls.
Damals war sie schon über siebzig. Jetzt war sie sicher nicht mehr am Leben. Trotzdem entschloß sich Lena, nach ihr zu fragen.
»Valentina Jurjewna lebt noch«, sagte die ältere Bibliotheksangestellte, »voriges Jahr ist sie ins Altersheim für Kriegsveteranen
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