Die leichten Schritte des Wahnsinns
nur eine kleine Uhr an sich, die einundzwanzig Rubel
gekostet hatte.
Sacharow war der erste, dem der Gedanke kam, daß alle vier Morde von ein und demselben Täter begangen worden sein könnten.
Er fuhr nach Tjumen, studierte die Akten und entwarf zum Verdruß des Staatsanwalts immer neue, ausgefeiltere Täterprofile.
Der Mörder ist äußerst vorsichtig, obwohl er nicht versucht, die Leichen zu verstecken. Geld und Wertsachen interessieren
ihn nicht, aber er nimmt von jedem Opfer irgendein Andenken mit, das heißt, die Morde haben für ihn auch Ritualcharakter.
Er ist wahnsinnig, aber nicht dumm. Er bringt es fertig, am Tatort praktisch keinerlei Spuren zu hinterlassen außer seinem
Sperma. Niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Jedes seiner Verbrechen ist sorgfältig geplant und durchdacht. Möglicherweise
ist er mit den Grundbegriffen der Kriminalistik vertraut, sonst würde er nicht so professionell vorgehen. Es scheint ein gebildeter,
kultivierter Mann mit schweren psychischen Problemen zu sein.
Die Fälle waren von vier verschiedenen Untersuchungsführern bearbeitet worden. Sacharow gelang es, die Gutachten der Gerichtsmediziner
zu bekommen, aus denen hervorging, daß das Sperma, das man in den Körpern der vier vergewaltigten Mädchen gefunden hatte,
von ein unddemselben Mann stammen konnte. Trotzdem weigerten die Behörden sich strikt, die beiden Tjumener und die beiden Tobolsker Morde
zu einem Fall zusammenzufassen.
Im Juni 1982 wurde die fünfte Leiche gefunden, auf einer Baustelle in Tjumen. Ein Mitschüler der ermordeten sechzehnjährigen
Schülerin der Technischen Berufsschule Nr. 8, Natascha Koloskowa, erklärte, er habe einen großen hellblonden Mann gesehen,
der sich an der Tür zur Aula herumgetrieben habe. Das Mädchen war vergewaltigt und erwürgt worden. Von ihrem Hals war ein
Schmuckstück verschwunden – ein billiges emailliertes Herzchen-Medaillon mit einer gemalten roten Rose darauf.
Nur zehn Tage später wurde im Stadtpark von Tobolsk wieder ein totes Mädchen entdeckt, Angela Nassjebulowa, siebzehn Jahre
alt. Sie war vergewaltigt und mit einem Messerstich ins Herz getötet worden. Laut Gutachten des Gerichtsmediziners war sie
nicht nur stark alkoholisiert gewesen, sie hatte auch unter Drogen gestanden und allen Anzeichen nach keinen Widerstand geleistet,
da sie gar nicht begriffen hatte, was ihr geschah. Die Mordwaffe wurde nicht gefunden.
Es blieb offen, ob der Getöteten irgendein Schmuckstück entwendet worden war oder nicht. Das Mädchen war eine Waise, ohne
Ausbildung und ohne Arbeit, es lebte bei seiner Tante, einer Alkoholikerin, die sich nicht daran erinnern konnte, was für
»Klunker« Angela besaß. Aber das Sperma war wieder das des »stillen Mörders«. Den »Stillen« hatte ihn Sacharow als erster
genannt, und so hieß er seitdem in den Einsatzberichten.
Bei den Akten fand Ijewlew ein psychologisches Gutachten von drei Seiten. In diesem halboffiziellen Dokument stand etwa folgendes:
Die Morde und Vergewaltigungen wurden von einem Mann zwischen vierzig und fünfzig begangen, mit Realschul- oder Berufsschulabschluß
undsehr niedrigem Bildungsniveau. Verheiratet, Trinker, psychisch labil. Möglicherweise bei der Drogen- oder psychologischen
Fürsorgestelle seines Wohnorts registriert. Hat wahrscheinlich als Heranwachsender Schwierigkeiten mit dem anderen Geschlecht
gehabt, vielleicht eine schwere Kränkung oder einen Mißerfolg erlebt, der ihn für sein ganzes späteres Leben traumatisiert
hat. Es liegt das sogenannte heboide Syndrom vor, Überreste von pubertären Komplexen im Erwachsenenalter. Durch den Mord an
halbwüchsigen Mädchen bestätigt er sich gleichsam unbewußt selbst, rächt sich für die ihm in der Jugend zugefügte Kränkung.
Höchstwahrscheinlich wird er seine Schuld kategorisch leugnen und einen hysterischen Anfall und Amnesie vortäuschen.
Unter dem Dokument stand die Unterschrift:
Dr. med. R. V. Gradskaja, Serbski-Institut für allgemeine und Gerichtspsychiatrie.
Richtig, der gründliche Sacharow war damals im November nach Moskau gefahren, um ebendieses Dokument zu bekommen. Damit die
Psychiaterin Gradskaja ein psychologisches Porträt des Täters verfassen konnte, mußte sie mit den Ergebnissen der Untersuchung
vertraut gewesen sein – wenn auch nur durch Sacharows Worte.
Bereits Ende Dezember war in Tjumen Nikita Slepak verhaftet worden – fünfundvierzig Jahre alt, mit
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