Die leichten Schritte des Wahnsinns
Realschulabschluß, verheiratet,
Alkoholiker, registriert bei der Drogen- und bei der psychologischen Beratungsstelle.
Der Quartalssäufer Slepak hatte in betrunkenem Zustand versucht, an einem Bierstand Schmuck und eine Uhr zu verkaufen. Er
hatte randaliert, sich in der Schlange vorgedrängt, der Verkäuferin den billigen Nippes unter die Nase gehalten und dafür
Bier haben wollen. Der Milizionär des Bezirks war gerade in der Nähe gewesen. Die Verkäuferin, der der zudringliche Säufer
auf die Nerven ging, hatte laut gerufen: »He, Miliz!«
Nikolai Ijewlew betrachtete die Fotografien und las die genaue Beschreibung der Gegenstände, die man Nikita Slepak bei der
Festnahme abgenommen hatte. Es war das komplette Sortiment der Schmuckstücke, die den ermordeten Mädchen gestohlen worden
waren.
Slepak war sturzbetrunken, randalierte, im Protokoll war festgehalten, daß er bei seiner Festnahme aktiven Widerstand leistete.
Nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, erklärte er, den Schmuck habe er nicht gestohlen, sondern gefunden, und zwar
nicht irgendwo auf der Straße, sondern in der Tasche seiner eigenen Steppjacke.
Bei der Hausdurchsuchung wurde hinter dem Ofen ein Pullover mit Blutflecken gefunden. Es war das Blut der ermordeten Angela
Nassjebulowa, des letzten Opfers des »Stillen«. Ein sorgfältig abgewaschenes kleines Fahrtenmesser mit Plastikgriff war in
den Pullover eingewickelt. Die Art der Wunde deutete auf genau so eine Waffe hin. Slepaks Blutgruppe stimmte mit der überein,
die die Ergebnisse der Spermaanalyse nahelegten.
Slepak fuhr häufig zu einem Verwandten nach Tobolsk, wohnte dort über längere Zeit und nahm alle möglichen Gelegenheitsarbeiten
an. Im Anschluß daran vertrank er alles, was er verdient hatte, manchmal gleich in Tobolsk, zusammen mit dem Verwandten. Manchmal
gerieten sie sich auch in die Haare, dann fuhr Slepak nach Tjumen zurück und trank dort. Er hatte keinerlei Alibi – nicht
in einem der sechs Fälle. Zu alledem kam noch, daß er groß, breitschultrig und blond war. Auf seine linke Hand war in winzigen
Buchstaben »NIKITA« tätowiert.
Lange begriff er nicht, was man von ihm wollte. Aber nachdem man ihn in der Gemeinschaftszelle des Tjumener Untersuchungsgefängnisses
fast totgeprügelt hatte, ihm den Schädel eingeschlagen und die Geschlechtsteile zerquetscht hatte, verfiel er in einen Zustand
stiller Paranoia. Seit dieser Zeit antwortete er auf alle Fragen nur mit vier Worten: »Ichhabe niemanden umgebracht.« Aber die Ärztekommission erklärte, er sei zum Zeitpunkt der Verbrechen zurechnungsfähig gewesen.
Slepak legte kein Schuldgeständnis ab, schrieb aber auch keine Anträge oder Bittschriften, wandte sich an keine höhere Instanz.
Sein Rechtsanwalt erfüllte kaum seine gesetzlichen Pflichten. Die Angehörigen der ermordeten Mädchen beschimpften Slepak im
Gerichtssaal, nannten ihn Tier, Mißgeburt, Ungeheuer. Zwei Leuten wurde sogar schlecht. Selbst wenn noch irgendwer an seiner
Schuld oder an der Stichhaltigkeit der Beweise gezweifelt hatte, in dieser Atmosphäre wirkte jeder Zweifel albern, fast blasphemisch.
Alles paßte zusammen. In Rekordzeit war der Täter gefaßt und unschädlich gemacht worden. Wer weiß, wie viele Opfer es sonst
noch gegeben hätte? Die Justiz hatte triumphiert.
Das Bezirksgericht von Tjumen verurteilte Nikita Slepak zum Tod durch Erschießen. Das Urteil wurde im Frühjahr 1983 vollstreckt.
Bis zur letzten Stunde seines Lebens wiederholte Slepak wie eine Beschwörung die vier Worte: »Ich habe niemanden umgebracht!«
Nur ein Mensch äußerte Zweifel an der Schuld von Nikita Slepak – Oberleutnant Igor Sacharow. Aber er wurde im November 1982
unter mysteriösen Umständen ermordet. Man schrieb diesen Mord irgendwelchen Rowdys zu. Spuren wurden nicht gefunden. Der Tod
von Igor Sacharow blieb ein Geheimnis.
Kapitel 33
»Guten Tag. Sind Sie Nadeshda Iwanowna Sacharowa?«
»Ja, die bin ich«, sagte die pummelige, grauhaarige Frau und wischte sich die mehlbestäubten Hände an der Schürze ab.
»Mein Name ist Poljanskaja. Ich komme aus Moskau. Vor zwölf Jahren haben Sie mir eine Erzählung Ihres Sohnes Igor in die Redaktion
meiner Zeitschrift geschickt.« Lena zog den alten Brief aus der Tasche und reichte ihn der Frau.
Nadeshda Iwanowna nahm ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen entgegen.
»Ach so, Sie sind also diese Journalistin? Natürlich, ich erinnere mich. Kommen Sie doch
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