Die leichten Schritte des Wahnsinns
herein, legen Sie ab, dort sind Pantoffeln.
Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da.«
Sie lief in die Küche, aus der es nach Angebranntem roch. Ohne Schürze kehrte sie zurück und bat Lena ins Wohnzimmer. An der
Wand hing ein großes Foto von Sacharow.
»Nadeshda Iwanowna, ich weiß, daß Ihr Sohn in der Einsatzgruppe war, die mit den Ermittlungen im Fall Slepak beauftragt war.«
»Was denn, hat man erneut beschlossen, den wirklichen Mörder zu suchen? Nach so vielen Jahren?«
»Wieso erneut?« fragte Lena leise und merkte, wie ihre Finger kalt wurden.
»Es war doch schon einmal eine Frau da, sie kam extra aus Moskau angereist, eine Untersuchungsführerin bei der Obersten Staatsanwaltschaft.
Das ist lange her, ich glaube, es war 1984. Ein Jahr, nachdem Slepak verurteilt worden war. Sie hat mich ausführlich darüber
befragt, was Igor mir damals erzählt hat. Ich habe ihr sein Tagebuch gegeben und noch einige andere Papiere. Wissen Sie, ich
habe so gehofft, daß man doch noch den Richtigen findet und damit auch den, der meinen Sohn …«
Sie schluckte krampfhaft und sprach nicht weiter.
»Verzeihen Sie, Nadeshda Iwanowna, aber sind Sie vollkommen sicher, daß diese Frau von der Staatsanwaltschaft war?«
»Natürlich, ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Sie hat mir ihren Ausweis gezeigt, ein rotes Büchlein. Und ihre Fragen
waren sehr professionell. Schließlich war mein Sohn Milizionär, in diesen Dingen kenne ich mich also aus.«
»Verzeihen Sie mir noch einmal, aber mich haben Sie nicht nach meinem Ausweis gefragt«, bemerkte Lena.
»An Sie erinnere ich mich ja noch«, sagte die Frau lächelnd. »Sie sind im Klubhaus der Miliz aufgetreten, ich habe in der
ersten Reihe gesessen. Ihr Gesicht vergißt man nicht so schnell. Sie haben sich auch gar nicht verändert. Ihre Zeitschrift
hatte ich viele Jahre abonniert. Sie haben dort als Sonderkorrespondentin gearbeitet, unter Ihren Artikeln stand Ihr Foto.
Denken Sie nur nicht, ich ließe irgendeine Abenteurerin in mein Haus.«
»Nadeshda Iwanowna, wenn Sie ein so gutes Gedächtnis für Gesichter haben, wissen Sie dann vielleicht auch noch, wie diese
Frau aussah?«
»Genau kann ich sie natürlich nicht mehr beschreiben. Aber sie war – wie soll ich sagen? Äußerlich unangenehm, ein häßliches
Gesicht. Wissen Sie, manchmal sieht ein Mensch abstoßend aus, aber kaum spricht man mit ihm, vergißt man es. Eine sehr charmante
Frau, aber ihren Namen habe ich nicht mehr im Kopf.«
»Haben Sie irgendeinem von Igors Kollegen von diesem Besuch erzählt?«
»Wo denken Sie hin! Sie hat mich von Anfang an gewarnt, daß die Staatsanwaltschaft den Fall geheim behandelt. Es gäbe Anhaltspunkte
dafür, daß der wirkliche Mörder bei der Miliz arbeitet. Alles sei so geschickt inszeniert gewesen, als habe der Täter jedes
Detail der Ermittlungen gekannt. Deshalb hat sie mich gebeten, niemandem etwas zu sagen. Ich habe sogar eine entsprechende
Erklärung unterschrieben. Ein offizielles Formular, von der Staatsanwaltschaft der UdSSR. Igors Tagebuch wollte sie mir später
zurückgeben,aber offenbar ist die ganze Sache im Sande verlaufen, und dann war ihr nicht mehr danach.«
Ja, dachte Lena, ihr war nicht danach.
»Sie haben also keinerlei Unterlagen mehr?« fragte sie laut.
»Nein. Alles, was ich hatte, habe ich ihr gegeben. Viel war es ohnehin nicht – eine Kladde mit seinem Tagebuch und die Entwürfe
für ein paar Anträge, die er schreiben wollte.«
»Wissen Sie noch, an wen die Anträge gerichtet waren?«
»Eben dorthin, an die Oberste Staatsanwaltschaft.«
Der Besuch bei Nadeshda Iwanowna Sacharowa hatte nicht lange gedauert. Lena hatte Michael versprochen, um sechs zurück zu
sein. Er war ganz besessen von der Idee, die alte Bibliothekarin gleich heute aufzusuchen.
»Ein Mensch, der so lange in einer Bücherei gearbeitet hat, muß einfach vieles wissen«, erklärte er. »Außerdem kann diese
alte Lady von den zwanziger und dreißiger Jahren erzählen, von der Entkulakisierung und davon, wie die Bolschewiki Jagd auf
die heidnischen Schamanen gemacht haben. Sie ist eine Augenzeugin. Eine solche Gelegenheit darf man nicht versäumen.«
Lena hatte vor, am nächsten Tag nach dem Haus zu suchen, in dem Wolkow früher gewohnt hatte. Sie wußte die Adresse nicht mehr,
aber sie hoffte, es aus dem Gedächtnis zu finden. Bestimmt lebten dort noch Leute, die sich an ihn erinnerten. Sie wollte
vorgeben, einen
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