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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Vereinbarung: Alles Schlechte muß man in Worte
     packen, wie den Müll in Zeitungspapier, und wegwerfen. So wird die Seele gereinigt.« Die Stimme im Hörer klang sanft, einlullend
     und tröstend. »Katjenka, du mußt gewissenhaft alles aussprechen, du darfst nichts vergessen.«
    »Vielleicht sollte ich in die Kirche gehen?« fragte Katja unerwartet. »Oder überhaupt in ein Kloster? Das ist immer noch besser
     als der Strick.«
    »Du darfst jetzt nicht vom Thema abkommen, Kindchen, wenn du das tust, wirst du die ganze Nacht nicht schlafen können. Und
     schlafen mußt du. Sprich weiter, bleib bei der Sache. Du hast dich über die Poljanskaja geärgert, weil sie Kratzer auf Mitjas
     Hand bemerkt hat. Worüber habt ihr noch gesprochen?«
    »Über nichts weiter. Sie hat sofort begriffen, daß das Gespräch mir unangenehm war.«
    »Hat Olga die Kratzer auf Mitjas Hand gesehen?«
    »Das weiß ich nicht. Olga hat mit mir überhaupt nicht geredet. Ich glaube, sie quält nur, warum das Mitja passieren mußte
     und nicht mir. Natürlich, das wäre für alle besser gewesen, auch für mich. Und außerdem glaubt Olga nicht, daß Mitja es allein
     getan hat. Die Poljanskaja ist derselben Meinung. Sie glauben, jemand hätte ihm geholfen.«
    »Haben sie dir das gesagt? Haben sie dich irgend etwas gefragt?«
    »Olga hat sich genau erkundigt, wie wir den Tag und den Abend verbracht haben, was wir alles gemacht haben, Minute für Minute.«
    »Und die Poljanskaja?«
    »Die hat nur nach den Kratzern gefragt.«
    »Weshalb meinst du dann, sie glaube nicht an einen Selbstmord?«
    »Ich habe so ein Gefühl. Du lieber Gott, ist das denn so wichtig, wer was glaubt?« schrie Katja plötzlich in den Hörer. »Sollen
     sie doch glauben, was sie wollen. Was macht das für einen Unterschied?«
    »Schon gut, mein Kind. Reg dich nicht auf. Du legst jetzt den Hörer auf und gehst schlafen. Du wirst lange und fest schlafen,
     du möchtest jetzt tief schlafen. Deine Beine sind schwer und warm, du fühlst dich gut und ruhig. Dulegst den Hörer auf, gibst dir eine Spritze und schläfst ein.«
    Auf schwachen Beinen stolperte Katja in die Diele, wo auf dem Boden ihre Tasche lag. Sie hatte nur noch einen Gedanken – in
     der Tasche befanden sich Spritze und Ampulle. Zwei weitere Ampullen lagen in der Schreibtischschublade und drei auf dem Bücherregal
     in dem alten Etui von Mitjas Rasierapparat. Daran erinnerte sich Katja genau, sonst an nichts mehr.
    Sie sehnte sich nach Schlaf, die Augen fielen ihr ständig zu, wie bei einer Puppe, die man auf den Rücken legt. Die Nadel
     wollte die richtige Stelle nicht sofort treffen und zerkratzte die Haut, aber nur leicht.

Kapitel 5
    Tobolsk, Oktober 1981
    Auf der staubigen Bühne des städtischen Pionierpalastes drehte sich eine Volkstanzgruppe zu den Klängen der »Russischen Quadrille«.
     Die Jungen in gelben Seidenhemden mit Stehkragen, die Mädchen in Stiefeln und blauen Sarafanen wirbelten fröhlich über die
     Bühne, die Arme in die Seiten gestemmt, und stampften zur Tonbandmusik donnernd auf die Holzdielen.
    Die dicke Galja Malyschewa, Instrukteurin der Propagandaabteilung, hielt es nicht mehr aus, sie schlug mit dem Fuß den Takt
     und fiel halblaut in das ausgelassene Liedchen ein.
    »Galja, hör auf!« Der neben ihr sitzende Wolodja Totschilin, zuständig für die künstlerische Jugendarbeit, stieß sie mit dem
     Ellbogen in die Seite. »Wir sind schließlich eine offizielle Kommission, also reiß dich etwas zusammen. Nimm dir ein Beispiel
     an Wenjamin.«
    Wenjamin Wolkow blickte mit versteinertem Gesicht aufdie Bühne, wie es sich für das Mitglied einer städtischen Kommission geziemte, die sich die Probe für das Festkonzert zum
     Jahrestag der Oktoberrevolution ansah.
    »Ein erstklassiges Ensemble haben wir!« tuschelte Galja laut und schlug sich auf ihr breites Knie. »Die kann man getrost nach
     Moskau schicken! Oder sogar ins Ausland, nach Karlsbad. He, Genosse Kulturamtsleiter, du könntest ein bißchen mehr für die
     Förderung der jungen Talente tun.« Sie zwinkerte Wolkow fröhlich zu.
    Wenja gab keine Antwort, wandte nicht einmal den Kopf in ihre Richtung. Er konnte seine hellen, durchscheinenden Augen nicht
     von der Bühne losreißen.
    Die Solotänzerin schwebte geradezu über die Bühne. Ihre schmalen Füße in den weichen Tanzstiefeln berührten den Boden kaum.
     Viele Mädchen des Ensembles hatten sich künstliche Zöpfe angesteckt, die meist farblich gar nicht zu ihrem

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