Die leichten Schritte des Wahnsinns
sich vor nichts und niemandem.
Die stillen Streber wurden verachtet. Wenja Wolkow warso ein stiller Streber. Aber er war auch körperlich stark und konnte es mit jedem Ganoven aufnehmen. In der neunten Klasse
verachtete Wenja niemand mehr. Er konnte sich zu gut prügeln.
Wowa Sisy, ein echter Ganove, der erst kürzlich aus der Strafkolonie entlassen worden war, verlor Tanja eines Abends beim
Kartenspiel. Als er dem Mädchen in einer dunklen Gasse auflauerte, war Wenja Wolkow zufällig in der Nähe. Es war noch nichts
geschehen, Tanja und Wowa standen einfach zusammen und sprachen miteinander. Wenja hatte sofort ihre schmale Silhouette mit
dem langen Zopf erkannt.
Immer wenn er Tanja anschaute, wurde ihm der Mund trocken. Als er zwölf war, konnte er sich das noch nicht erklären, aber
jetzt, mit sechzehn, meinte er seine Gefühle sehr gut zu kennen.
Hätte ihm jemand gesagt: »Wolkow, sie gefällt dir, du bist in sie verliebt!«, so hätte er diesem Idioten laut ins Gesicht
gelacht: So etwas gibt es nicht, solche Gefühle kennt die Natur nicht. Es gibt Instinkte und sexuelle Anziehung, wie in der
Tierwelt. Ein Gefühl wie der Hunger, nur stärker und schärfer. Es ist ganz natürlich, daß jedes Männchen danach strebt, sich
mit einem schönen und gesunden Weibchen zu paaren. Ist ein solches nicht zur Hand, tut es auch jedes beliebige andere. Aber
wenn man wählen kann, warum dann nicht das beste nehmen?
Allerdings, es gibt nichts umsonst. Auch bei den Tieren fällt das beste Weibchen dem stärksten Männchen zu.
»Wenja!« Tanjas Stimme klang erschrocken und bittend.
Er machte einen Schritt in ihre Richtung. Wowa hatte seine riesige Pranke auf Tanjas Schulter gelegt. Ohne lange zu überlegen,
riß Wenja diese Pranke von ihrer mageren Schulter, und einen Augenblick später war eine erbitterte stumme Schlägerei im Gange.
Wowa wehrte sich verzweifelt, aber er war Wenja physisch unterlegen und nicht sogeschickt und wendig. Wenja besiegte den Ganoven relativ schnell und kam selber mit einer aufgeplatzten Lippe und angeschlagenen
Fingerknöcheln davon.
Seitdem »gingen« er und Tanja Kostyljowa miteinander. In der zehnten Klasse gab es bereits mehrere solcher Pärchen. Das Ritual
dieser Schulfreundschaften bestand darin, daß der Junge und das Mädchen zusammen spazierengingen, das einzige Eiscafé der
Stadt besuchten und im Kino in der letzten Reihe saßen, wo sie knutschten und sich küßten, sich jedoch nie über die Tabugrenze
– die Gürtellinie – hinauswagten. Wenn einer dieser pickligen Herzensbrecher in geheimnisvollem Flüsterton von seinen Erfolgen
schwärmte, konnte Wenja sich kaum ein verächtliches Lachen verkneifen.
Du bist doch noch unschuldig wie ein neugeborenes Lamm, dachte er. Erstens hast du gar keinen Ort, wo du es tun könntest.
Du wohnst in einer Kommunalwohnung mit Sperrholzwänden, in einem Zimmer mit fünf Personen, und deine giftige Großmutter ist
immer zu Hause. Zweitens hast du im ganzen Gesicht Pickel und riechst aus dem Mund. Und drittens erzählst du alles ganz falsch.
Ich muß es schließlich wissen.
Nach dem Vorfall mit der pummeligen Nachbarin Lara glaubte Wenja alles zu wissen.
Obwohl er selbst nicht in einer Kommunalwohnung lebte, keine giftige Oma hatte und seine Eltern von früh bis spät arbeiteten,
hatte er mit Tanja jede Menge Probleme. Sie weigerte sich beharrlich, zu ihm nach Hause zu kommen, und lud ihn auch nicht
zu sich ein.
»Verstehst du, Wenja«, sagte sie, »du gefällst mir sehr. Aber alles hat seine Zeit. Zuerst müssen wir uns richtig kennenlernen.
Laß uns nur ein bißchen spazierengehen und reden. Und außerdem könnte deine Mutter zufällig von der Arbeit kommen. Sei mir
nicht böse, aber ich habe etwas Angst vor ihr. Sie ist so streng und korrekt.«
In einer sibirischen Stadt kann man im Winter nicht allzu lange spazierengehen. Manchmal wärmten sie sich in einem Kino auf,
manchmal in einem Hauseingang. Kaum waren sie allein, preßte er gierig seinen Mund auf ihre weichen, salzig schmeckenden Lippen,
versuchte, seine Hände, die selbst bei strengem Frost glühend heiß waren, unter ihre Kaninchenfelljacke und ihren dicken Pullover
zu zwängen. Sie wehrte sich ein bißchen, aber nur, um den Anstand zu wahren.
»Nicht doch, Wenja, laß das«, sagte sie, drückte sich mit dem ganzen Körper an ihn und streckte ihm ihre Lippen zum Kuß hin.
Manchmal widerte ihn das an: Auch sie log, wie alle, und
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