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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Mischa Sitschkin um Rat fragen, wie sie sich schützen konnte. Aber eine sonderbare
     Schnüfflerin war das schon – hatte reichlich Zeit, untersuchte ein Kind ganz professionell, gab vernünftige und zweckmäßige
     Ratschläge und diskutierte dann auch noch über die Psychologie von Selbstmördern.
    Besondere Übelkeit aber verursachte es Lena, daß sie einem wildfremden Menschen nicht nur Zutritt zu ihrer Wohnung gewährt
     hatte, sondern ihn auch ihr Kind hatte berühren lassen.

Kapitel 10
    »Man muß sich an den kleinen Dingen im Leben freuen können – am Sonnenschein, am ersten Schnee, am frischen jungen Gras«,
     pflegte Reginas Mutter zu sagen.
    Sie war eine ruhige, kultivierte, nicht gerade schöne Frau. Im Alter von einundvierzig Jahren hatte sie, eine alleinstehende,
     altjüngferliche Bibliothekarin, sich mit dem betrunkenen Elektriker Kirill eingelassen, einem aufdringlichen dreißigjährigen
     Rüpel, der gerade von der Front zurückgekehrt war.
    Er kam an einem eisigen Januarabend in die Bibliothek, um die Elektroleitung zu reparieren. Draußen herrschte grimmiger sibirischer
     Winter, vierzig Grad Frost, im Lesesaal glühte der große Kachelofen und verströmte eine schläfrige, schmachtende Hitze. Alle
     waren bereits nach Hause gegangen, zu ihren Familien. Nur Valentina Gradskaja hatte es nicht eilig, und so war sie gebeten
     worden, auf den Elektriker zu warten, der sich verspätet hatte.
    Dieser erbärmliche entlassene Soldat mit seiner dicken Kartoffelnase, dem fliehenden Kinn und dem vulgären Grinsen wurde der
     Zufallsvater von Regina Valentinowna Gradskaja.
    Alles spielte sich rasch und grob ab, auf dem abgeschabten vorrevolutionären Sofa im Lesesaal, unter den großen Porträts mit
     den Klassikern der russischen Literatur.
    »Warum mußtest du mir das erzählen?« fragte die achtzehnjährige Regina ihre Mutter. »Hättest du nicht irgendeine schöne romantische
     Geschichte erfinden können, von einem Polarforscher, der heldenhaft im ewigen Eis umgekommenist, oder von einem breitschultrigen Frontsoldaten mit Orden auf der Brust?«
    »Er war ja Soldat«, erwiderte ihre Mutter mit schuldbewußtem Lächeln.
    »Er war ein erbärmliches Vieh!« schrie Regina. »Eine Mißgeburt! Von solchen kriegt man keine Kinder!«
    »Regina, es war Januar 1946. Wo sollte es da heldenhafte Polarforscher geben? Auf zehn Frauen kam ein Mann. Ich war schon
     vierzig Jahre und stand allein auf der Welt. Ich wollte doch so gern ein Kind. Das war meine letzte Chance.«
    »Besser hättest du mich angelogen.«
    »Ich kann nicht lügen, das weißt du doch.«
    Ja, Regina wußte es. Und insgeheim haßte sie dieses hilflose, schuldbewußte Lächeln, diese pathologische Ehrlichkeit.
    Andere belog ihre Mutter nie, nur sich selbst. Sie tröstete sich ständig mit Illusionen, lebte in einer idealen Traumwelt.
    »Natascha Rostowa war absolut keine Schönheit«, predigte sie ihrer Tochter in schmeichelndem Ton. »Weißt du, wie Tolstoi seine
     Lieblingsheldin beschreibt?« Und sie zitierte, die Augen halb geschlossen, ganze Abschnitte aus »Krieg und Frieden«. »Oder
     die Fürstin Marja? Ihr Porträt ist eine wahre Hymne an die Schönheit der Seele.« Wieder folgte ein Abschnitt aus Tolstois
     berühmtem Roman. »Und Puschkins Tatjana glänzte auch nicht durch Schönheit.« Lange Zitate aus »Eugen Onegin«, wieder auswendig
     und mit halbgeschlossenen Augen. »Verstehst du, Regina, unglücklich zu sein, weil du keine regelmäßigen Gesichtszüge hast,
     ist dumm und überflüssig. Vom Äußeren hängt im Leben nichts ab. Viel wichtiger ist die Schönheit der Seele, sind Güte und
     Verstand.«
    Schon mit zwölf Jahren wußte Regina, daß das Humbug war. Eine schöne Frau kann so dumm sein, wie sie will, siewird es im Leben immer leichter haben als eine häßliche, wie gescheit diese auch sein mag. Keine Schönheit der Seele, keine
     Güte und kein Verstand helfen der Häßlichen. Je älter Regina wurde, desto fester war sie davon überzeugt.
    Sie war vierzehn, als ihre Mutter, aufgeschreckt durch Gepolter und Geklirr, aus der Küche in ihr Zimmer gerannt kam und sah,
     wie sie auf den Scherben des großen Spiegels herumtrampelte und dabei leise und konzentriert wiederholte:
    »Ich hasse mich! Ich hasse mich!«
    Ihre Fäuste waren bis aufs Blut zusammengekrallt.
    »Regina, Mädchen, was hast du?«
    »Geh weg! Ich hasse mich! Diese Nase, diese Augen, diese Zähne … Ich hasse mich!«
    Regina war immer eine gute

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