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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Schülerin, ihr fiel alles leicht. Schon in der Schule lernte sie drei Sprachen: Englisch, Deutsch
     und Französisch, selbständig, nach alten Gymnasiallehrbüchern aus dem Fundus der Stadtbibliothek. Im ersten Anlauf und ohne
     irgendwelche Beziehungen schaffte sie die Aufnahme ins Moskauer Medizinische Institut.
    Viele ihrer Kommilitonen wurden bleich oder fielen sogar in Ohnmacht, als sie im Anatomieseminar zum erstenmal an den Zinktischen
     standen, auf denen die Leichen lagen. Regina Gradskaja griff seelenruhig zum Skalpell und spürte dabei weder Entsetzen noch
     Ekel – nur die kühle Neugier eines Wissenschaftlers.
    Über die Kaltblütigkeit dieser schweigsamen, hoffnungslos häßlichen Studienanfängerin aus Tobolsk waren sogar die Dozenten,
     die in ihrem Leben schon einiges gesehen hatten, verblüfft, von den Kommilitonen ganz zu schweigen. Im Studentenheim ging
     man ihr aus dem Weg und fürchtete sich sogar ein wenig vor ihr. Die vier anderen Mädchen in Reginas Zimmer teilten sich fast
     alles. Wenn eine von ihnen zu einer wichtigen Verabredung ging, wurde sie von den anderen ausgestattet – die eine gab ihr
     Schuhe,die nächste einen Rock. Regina verlieh nie etwas von ihren Sachen und nahm auch nichts von den anderen. Zu Verabredungen ging
     sie nicht, im täglichen Leben war sie penibel und sparsam und brachte es auf diese Weise sogar fertig, mit dem kargen Stipendium
     auszukommen. Allerdings bekam sie von Anfang an ein Leistungsstipendium, aber auch das waren nur Kopeken.
    Alle Zwischenprüfungen bestand sie mit »Eins«. In den sechs Jahren ihres Studiums war sie nicht einmal krank, versäumte keine
     einzige Unterrichtsstunde. Sie schlief nur vier Stunden pro Nacht und las praktisch alles, was die gut bestückte Institutsbibliothek
     zu bieten hatte. Besonders intensiv vertiefte sie sich in die Bücher über Psychiatrie.
    Mehr als alles auf der Welt fürchtete Regina Gradskaja, verrückt zu werden. Sie wußte, daß ihre Fixiertheit auf ihr Äußeres
     ans Pathologische grenzte und daß diese Grenze fließend ist – ein schwerer Minderwertigkeitskomplex kann jederzeit in eine
     psychische Erkrankung übergehen. Es ist schwer, nicht verrückt zu werden, wenn man sich selbst haßt, wenn einem das eigene
     Gesicht im Spiegel wie ein widerlicher Alptraum vorkommt. Die eigene Häßlichkeit wird zur alles überlagernden fixen Idee und
     steigert sich bis zur Wahnvorstellung.
    Doch je gründlicher Regina Psychiatrie studierte, desto klarer begriff sie: Eine genaue Grenze zwischen Normalität und Pathologie
     gibt es nicht. So exakt und konkret die Dogmen der Schulmedizin auch sind – psychische Krankheiten vermag niemand zu heilen.
     Seit Aminasin und Haloperidol war nichts Neues erfunden worden. Und diese Präparate haben auf den menschlichen Organismus
     eine schrecklichere Wirkung als Zwangsjacken, Gitterstäbe und Elektroschocks. Im Grunde war die Psychiatrie die gleiche geblieben
     wie schon vor hundert, zweihundert Jahren. Der Arzt sah seine Aufgabe nicht darin zu heilen, sondern darin, den Geisteskranken
     ungefährlich und hilflos zu machen.
    Regina war überzeugt: Die menschliche Seele braucht keine Chemie, sondern etwas völlig anderes. Sie begann sich mit den Phänomenen
     des Übersinnlichen und mit Hypnose zu beschäftigen und las alles, was man damals zu diesem Thema bekommen konnte. Sie lernte,
     mit der Stimme, den Händen, dem Blick zu heilen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als dringe sie bis ins Gehirn und in die Seele
     eines Menschen ein und erblicke das Wesen seiner seelischen Krankheit.
    Am Serbski-Institut für Gerichtsmedizin, wohin es sie als junge Stationsärztin verschlug, hatte sie es mit einer besonderen
     Klientel von Patienten zu tun – mit Mördern, Vergewaltigern und Sadisten. Vorsichtig probierte sie an diesen Menschen ihre
     übersinnlichen und hypnotischen Fähigkeiten aus und entdeckte, daß es neben primitiven Schwachsinnigen, wollüstigen, verbitterten
     Impotenten und aggressiven Alkoholikern unter ihnen auch ganz ungewöhnliche, starke und begabte Persönlichkeiten gab, wie
     man sie sonst, bei den normalen Menschen, kaum antrifft.
    Am meisten interessierten sie die Serienmörder, und zwar diejenigen unter ihnen, die vollkommen zurechnungsfähig waren, eine
     höhere Bildung und einen sehr hohen Intelligenzquotienten besaßen. Diese Menschen wußten genau, was sie taten. Sie töteten
     nicht um des materiellen Gewinns wegen, sondern um ihre großen inneren

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