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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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dein Leben riskiert«, brachte er kaum hörbar heraus.
    »Du auch«, gab sie lächelnd zurück.
    Dann tranken sie in Reginas großer, gemütlicher Küche Tee. Wenja blieb über Nacht. In der Nacht wiederholte sich alles, nun
     ohne Hypnose. Wieder legten sich im entscheidenden Moment seine Hände um ihre Kehle. Aber im selben Augenblick spürte er unter
     dem linken Schulterblatt einen scharfen Schmerz und hörte ihre ruhige Stimme:
    »Das schaffst du nicht, Wenja.«
    Der Schmerz ernüchterte ihn. Er öffnete die Umklammerung.
    Aber Regina ließ den Griff des kleinen, rasierklingenscharfen Küchenmessers trotzdem nicht los. Erst als alles zu Ende war,
     fiel das Messer auf den Teppich neben dem Bett.
    »Verzeih mir«, sagte Wenja, als sie die Schnittwunde auf seinem Rücken mit Wasserstoffsuperoxyd auswusch und mit Jod bepinselte.
     »Verstehst du, es ist nicht meine Schuld. Es ist ein Reflex.«
    »Das ist bald vorbei.« Sie küßte ihn zärtlich auf die Schulter. »Meine Güte, ich hätte nicht gedacht, daß der Schnitt so tief
     ist. Brennt es?«
    »Ein wenig.«
    Sie blies auf die Wunde. Weder die Mutter noch der Vater hatten ihn so getröstet, wenn er sich wehgetan hatte, niemand hatte
     so zärtlich und behutsam gepustet, damit dasJod nicht brannte. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der geliebt und bedauert wird. Als hätte er eine garstige, abscheuliche
     Tat begangen, aber statt ihn zu schelten, in die Ecke zu stellen oder zu ohrfeigen, streichelte und tröstete man ihn.
    Es erfaßte ihn der Wunsch, diese Frau möge ihn an die Hand nehmen und durchs Leben führen – egal wohin. Er würde ihr mit geschlossenen
     Augen folgen, ihr blind und grenzenlos vertrauen. Sie wußte alles über ihn – und hatte sich nicht mit Grausen abgewandt. Sie
     zog ihn aus dem eisigen Abgrund der Einsamkeit, streichelte über seinen Kopf, wärmte und tröstete ihn. Er bemerkte nicht,
     daß sie häßlich war, ihm war nicht wichtig, wie sie aussah.
    Regina hatte große Pläne. Aber sie wußte, daß sie es allein nicht schaffen würde. Sie brauchte einen Mann wie Wenja Wolkow,
     stark, erbarmungslos, ohne das geringste Mitgefühl mit anderen, zugleich aber ihr vollkommen ergeben. Daß sie auch noch in
     Leidenschaft zu ihm entflammt war, war eine angenehme Zugabe, nicht mehr. Zumindest suchte sie sich das einzureden.
     
    Seitdem waren vierzehn Jahre vergangen. Regina hatte mit ihren Überlegungen recht behalten. Der wilde Hunger, der früher Wenja
     Wolkows Seele verbrannt hatte, lebte jetzt sein eigenes, selbständiges Leben, hatte sich in eine mächtige, gnadenlose Maschine
     verwandelt, den Konzern »Wenjamin«.
    Wolkow hatte seitdem nicht mehr getötet. Viele Male hatte er Killer engagieren müssen, um Gegner und Konkurrenten auszuschalten.
     Aber diese Morde hatten nichts mit seinen früheren Bluttaten zu tun, sie waren Schachzüge in dem komplizierten, grausamen
     Spiel, das sich »Showbusiness« nannte.
    Von der früheren Regina, die ihr eigenes Gesicht gehaßt hatte, waren nur noch die Stimme und die Hände geblieben.Ja, und die Haare und die Figur. Alles übrige – die Form von Nase, Wangenknochen und Lippen, der Schnitt der Augen, die regelmäßigen
     weißen Zähne – war das Ergebnis der sorgfältigen Arbeit plastischer Chirurgen. Nach den Operationen hatte sie alle alten Fotografien
     von sich vernichtet, selbst die Kinder- und Babyfotos – alle waren zerstört, verbrannt. Jene Regina mit der dicken Kartoffelnase,
     den kleinen, engstehenden Augen, dem fliehenden Kinn und den kaninchenartig vorstehenden Zähnen existierte nicht mehr. Der
     Tod der alten und die Geburt der neuen Regina, der kühlen idealen Schönheit mit klassisch zarter Nase, klarem ovalem Gesicht
     und gleichmäßigen perlweißen Zähnen, hatte einige Zehntausend Dollar gekostet.
    Die Operationen wurden etappenweise gemacht. Ein Tag in der Schweizer Klinik für plastische Chirurgie, die als die beste der
     Welt galt, kostete anderthalbtausend – nur der Aufenthalt, ohne Operationen und Behandlung. Regina verbrachte vierzig Tage
     in der Klinik.
    Als die Ärzte ihr erlaubten, Spaziergänge zu machen, fuhr sie in ein kleines Dorf in der Nähe der Klinik. Auf den sauberen,
     mit einem speziellen Mittel gereinigten Straßen grüßten freundliche Alpenschweizer die große, schlanke Dame auf Deutsch, auf
     Französisch und auf Englisch. Sie antwortete, wechselte mit den Passanten einige höfliche Worte – über das Wetter, die wunderbare
     Luft in

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