Die leichten Schritte des Wahnsinns
sie Mitja doch ermordet«, sagte sie laut.
Sie suchte alle Jackentaschen ab, fand ein Taschentuch, mehrere Chips für die Metro und zum Telefonieren, drei Tausendrubelscheine.
Das war alles.
Ich muß den Notizkalender finden! dachte Katja. Er hat dieses Blatt aus seinem Kalender gerissen.
In diesem Tageskalender notierte Mitja nicht nur seine Liedertexte, sondern auch Telefonnummern, Geschäftstermine und alle
möglichen Vorhaben.
Katja durchsuchte Mitjas Aktentasche und entdeckte zu ihrer Verwunderung zwischen den Notenheften ein Lehrbuch der Gerichtspsychiatrie.
Der Kalender fehlte. Sie durchstöberte alle Schreibtischschubladen, guckte unter den Schrank, sah die Bücherregale durch.
Der Notizkalender war ein Geschenk von Olga gewesen, ein kleines, dickes Buch mit einem Firmenlogo drauf – so etwas war doch
keine Stecknadel. Gewöhnlich lag er entweder in der Aktentasche oder in seiner Jackentasche, manchmal auch auf dem Schreibtisch.
Katja war so aufgeregt, daß sie sogar die Spritze vergessen hatte. Ihr Kopf begann schon ein wenig zu schmerzen. Noch eine
halbe Stunde, und der Schmerz würde so stark sein, daß sie nicht mehr denken konnte. Aber wenn sie spritzte, dann war sie
zu keinerlei Überlegungen oder Erinnerungen mehr fähig. Und sie mußte sich erinnern.
Poljanskaja – das muß diese Lena Poljanskaja sein, die zum Spritzen mit mir nach draußen gegangen ist. Aber washat sie damit zu tun? Nach welchem Kommissar wollte Mitja sie fragen? Ihre Gedanken verwirrten sich. Ob ich sie anrufe und
ihr von diesem seltsamen Blatt erzähle? Ihr Mann arbeitet ja bei der Miliz, Mitja hat davon erzählt. Er hat sie mal besucht
… Lena sehe überhaupt nicht aus wie die Frau eines Milizhauptmanns, hat er gesagt, aber dafür sei ihr Mann ein typischer Bulle,
wie aus dem Bilderbuch.
Zu dem Kopfschmerz gesellte sich noch Schüttelfrost, kalter Schweiß brach ihr aus. Aber statt sich eine Spritze zu setzen,
nahm Katja eine Aspirintablette und spülte sie mit süßem, kaltem Tee hinunter, aß ein Stück Brot mit Käse und einen Löffel
kalten Mais direkt aus der Konservendose. Besser wurde ihr davon nicht, aber Katja war fest entschlossen, nicht eher zu spritzen,
bis sie die Telefonnummer dieser Lena Poljanskaja gefunden und sie angerufen hatte. Auf einmal erinnerte sie sich, daß ihr
auch Mitjas Telefonbüchlein kein einziges Mal unter die Augen gekommen war.
Das ist also auch verschwunden, genau wie der Kalender! Das Fenster war offen, das Telefon hatte nicht funktioniert. Jemand
konnte in aller Ruhe in die Wohnung klettern, Mitja etwas spritzen und dann … Wir sind zusammen schlafen gegangen, wir waren
beide schrecklich müde. Er war von acht Uhr morgens an auf den Beinen gewesen, und ich hatte mir eine Spritze gesetzt und
noch zwei Schlaftabletten geschluckt. Was waren das noch für Tabletten? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich erinnere mich an
gar nichts mehr … Mein Gott, ist mir übel. Ich brauche eine Spritze. Jetzt sofort, in diesem Moment.
Vier Ampullen hatte sie noch gehabt, blieben also noch drei. Nach der Spritze fühlte Katja sich leicht und gut. Sie war plötzlich
felsenfest davon überzeugt, daß ihr Mann keinen Selbstmord begangen hatte.
»Er hat sich selber reingeritten, mit seinen Produzenten«, sagte Katja laut, ruhig und fast fröhlich. »Diese Produzenten sind
doch alle mit der Mafia verbandelt. Mitja ist keinSelbstmörder, diese Sünde hat er niemals begangen. Und ich auch nicht. Nicht ich habe ihn an den Strick gebracht.«
Die plötzliche Fröhlichkeit ging in heftiges Schluchzen über. Vom Weinen wurde ihr leicht, wie in der Kindheit, wenn man aus
vollem Herzen weint und die Welt danach wieder neu und strahlend aussieht, als hätten die Tränen sie blitzblank gewaschen.
Katja beschloß, zuerst Mitjas Eltern anzurufen und ihnen alles zu erzählen, damit sie sich nicht länger quälten.
Ihre Schwiegermutter nahm ab.
»Nina Andrejewna!« platzte Katja aufgeregt heraus, ohne Einleitung und Begrüßung. »Mitja hat das nicht selbst getan, er ist
ermordet worden. Verstehen Sie, er ist kein Selbstmörder. Hören Sie mich? Ich weiß jetzt genau, daß in jener Nacht jemand
zu uns durchs Fenster geklettert ist.«
Im Hörer herrschte angespanntes Schweigen. Schließlich sagte Nina Andrejewna kaum hörbar:
»Laß doch, Katjuscha. Bitte, sprich nicht mehr davon.«
»Was?! Warum denn nicht? Das ist sehr wichtig.«
Katja konnte ihren Satz nicht
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