Die leichten Schritte des Wahnsinns
doch selber mal nach, was für einen Zusammenhang soll es da geben?«
***
Schöne Frauen waren Regina schon immer unangenehm, besonders wenn sie auch noch Verstand besaßen. Aber im Unterschied zur
Mehrheit ihrer Geschlechtsgenossinnengestand sie sich das ehrlich ein. Sie konnte anerkennen, daß eine andere Frau schöner, klüger, besser war, und sie dafür ehrlichen
Herzens hassen. Der Haß hatte freilich keine Folgen, solange diese Frau sich Regina nicht in den Weg stellte.
An Lena Poljanskaja ärgerte sie vom ersten Augenblick an alles – die regelmäßigen, klaren Gesichtszüge, der lange graziöse
Hals, die nachlässig zusammengebundenen üppigen braunen Haare, die zarte, nicht sehr große, aber kerzengerade Gestalt und
sogar die kleinen Brillantohrringe – offensichtlich echter alter Schmuck, den sie vermutlich von irgendeiner Urgroßmutter
geerbt, also umsonst bekommen hatte. Aber ganz besonders mißfielen ihr die Hände dieser Frau – zarte, zerbrechliche Handgelenke
und schmale, gutgeformte Finger mit kurz geschnittenen Nägeln, ohne jede Maniküre. Wieviel Zeit und Kraft verwandte Regina
auf ihre eigenen Hände mit den kurzen Fingern, breiten Handflächen und dicken, plebejischen Gelenken! Bei ihren Händen hatten
selbst die Zauberkünste der Schweizer Chirurgen versagt.
Natürlich war diese ganze Maskerade als Ärztin der Filatow-Klinik nicht ohne Risiko gewesen. Aber ihr wichtigstes Prinzip
hatte funktioniert: Man muß seinen Gegner genau kennen, um zu beurteilen, wie gefährlich er ist und was man von ihm zu erwarten
hat.
Sie hatte sich auf die Begegnung sorgfältig vorbereitet und ihr Aussehen wohlüberlegt und professionell verändert. Das Bild
der abgehetzten, aber freundlichen und rücksichtsvollen Kinderärztin mußte hundertprozentig glaubhaft wirken. Nur einen Fehler
hatte sie gemacht – sie war zu lange geblieben. Aber das war ein verzeihlicher Fehler – schließlich durfte auch eine Ärztin
einmal müde sein und sich bei einer Tasse guten Kaffees entspannen.
Außerdem hätte sie auch nicht eher gehen können.Das Gespräch mußte zu Ende geführt werden. Hätte die Poljanskaja das Thema Selbstmord aufgegriffen und die Geschichte von
Sinizyn erzählt, dann wäre Regina erst einmal beruhigt gewesen. Aber stattdessen hatte sie kein einziges Wort über den Bruder
ihrer Freundin verlauten lassen. Eine andere Frau an ihrer Stelle hätte bestimmt alles ausführlich geschildert. Aber die Poljanskaja
hatte geschwiegen. Das heißt erstens, dieser Selbstmord geht ihr sehr nahe, und sie denkt viel darüber nach, zweitens glaubt
sie tief im Innern nicht daran, daß es ein Selbstmord war, und drittens ist sie keine Plaudertasche.
Vielleicht übertreibe ich ja auch? fragte sich Regina. Warum sollte sich die Poljanskaja überhaupt einmischen? Sinizyn war
weder ihr Mann noch ihr Bruder, er hatte eigentlich gar keine Bedeutung für sie. Und sie antwortete sich sofort: Nein. Ich
übetreibe nicht.
Olga Sinizyna ist zwar die leibliche Schwester des Ermordeten, aber sie wird trotzdem nicht sehr tief graben. Erstens verfügt
sie nicht über eine so gefährliche Menge an Informationen, zweitens achtet sie nicht sonderlich auf Details – sie hat nicht
einmal die Kratzer an der Hand ihres toten Bruders bemerkt. Aber vor allem hat sie eine ganz andere Art zu denken. Sie ist
eine Taktikerin, die Poljanskaja dagegen eine Strategin. Die Sinizyna denkt konkret, die Poljanskaja abstrakt, sie ist fähig
zu verallgemeinern und kann selbst unklare, noch nicht ausgereifte Indizien analysieren. Sie ist eine Analytikerin, das heißt,
sie wird so lange nachdenken und etwas unternehmen, bis sie zur Wahrheit vorgedrungen ist. Selbst wenn es für sie gefährlich
werden sollte. Mehr noch – je ernsthafter die Gefahr ist, desto entschlossener wird sie handeln und versuchen, die Gründe
zu verstehen und zu beseitigen, nicht die Folgen.
Vielleicht sollte man sie einfach ohne viele Umstände ausdem Weg räumen? überlegte Regina. Ein Selbstmord würde bei ihr natürlich nicht durchgehen. Ein Unglücksfall – der paßt schon
eher ins Bild.
***
Die Kassette mit Mitjas neuen Liedern fiel Lena ganz zufällig in die Hände. Merkwürdigerweise lag sie im Kinderzimmer, unten
in Lisas Spielzeugkiste. Lena ließ sofort alles stehen und liegen und schob die Kassette in den Recorder.
»Rückkehr ins Nirgendwo,
in längst vergangne Zeiten,
wo das Wasser sich wiegt, schwarz, wie
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