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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Komsomolabzeichen. Der junge Mann blickte
     sich nach allen Seiten um und steuerte dann entschlossen auf das Flughafengebäude zu.
    »Soll er uns doch erst mal suchen, wenn er schon zu spät kommt.« Mitja grinste schadenfroh. »Wann sind wir gelandet? Vor anderthalb
     Stunden!«
    Ein paar Minuten später dröhnte aus dem Flughafen eine Lautsprecherstimme:
    »Achtung! Die Journalistengruppe aus Moskau! Sie werden am Informationsschalter erwartet. Ich wiederhole …«
    ***
    »Ihr werdet zuerst nach Tobolsk fahren und dann nach Chanty-Mansijsk«, teilte ihnen der zweite Sekretär des Bezirkskomitees
     mit.
    Der geschniegelte, hochmütige Komsomolze, der um die dreißig sein mochte, hatte sofort erkannt, daß diese Moskauer keine hohen
     Tiere waren, sondern kleine Fische, Studenten, die ihr Praktikum machten. Und auch der junge Ideologiesekretär, der die Gäste
     begleiten sollte, hatte das begriffen. Wie sein Chef ging auch er gleich zum »Du« über, klopfte Mitja kumpelhaft auf die Schulter
     und nannte Lena und Olga »Mädels«.
    »Die Hotelfrage werden wir noch klären«, teilte er mit und gab ihnen die abgezeichneten Dienstreiseaufträge zurück. »Geht
     inzwischen ein bißchen spazieren, und seht euch die Stadt an. Eure Sachen könnt ihr bei mir im Büro lassen. Und so in zirka
     zwei Stündchen kommt ihr zurück, dann klären wir die Hotelfrage. Wir haben hier zur Zeit einen Kongreß der Rentierzüchter,
     da sieht’s mit Hotelzimmern schlecht aus.«
    »Entschuldigen Sie, Wolodja, was heißt ›klären wir‹?« wandte sich Lena an den Komsomolzen und hob das »Sie« besonders hervor.
     »Soweit ich weiß, haben wir heute einen Auftritt im Fernsehen und ein Treffen in einer Berufsschule. Die Fernsehsendung ist
     schon in einer Stunde, und wir müssen uns noch von der Fahrt erholen und duschen.«
    »Hör mal, altes Mädchen, was sind das für bourgeoise Zicken?« Wolodja runzelte die Stirn. »Was heißt hier duschen? Bleib auf
     dem Teppich. Hotelzimmer mit Dusche kriegst du hier sowieso nicht, damit du’s weißt. Erstens gibt es in Tjumen schon seit
     einem Jahr kein heißes Wasser mehr, und zweitens bist du kein Chefredakteur.«
    An diesem Punkt mischte sich Olga ein. Sie war eine Kämpfernatur und liebte es zu streiten, besonders mit solchen Flegeln
     vom Komsomol wie diesem hier.
    »Ein für allemal, Wolodja«, sagte sie leise und freundlich. »Entweder du hebst sofort, noch in dieser Sekunde, deinen dicken
     Hintern vom Stuhl und ›klärst‹ nicht irgendwelche Hotelfragen, sondern besorgst uns ein normales Hotel, oderwir gehen zum Bezirkskomitee der Partei und melden dort, daß du deinen ideologischen Aufgaben nicht gewachsen bist. Sollte
     das nicht genügen, dann rufen wir in Moskau in der Redaktion an, und unser Chefredakteur wird sich mit dem Zentralkomitee
     des Komsomol in Verbindung setzen. Möchtest du, daß die Hotelfrage auf dieser Ebene geklärt wird? Bitte sehr, das werde ich
     mit Vergnügen für dich arrangieren.«
    Eine Viertelstunde später fuhr sie der Wagen des Komsomol ins Hotel »Wostok«.
    »Ich wüßte gern«, sagte Lena nachdenklich, während sie das recht anständige Doppelzimmer betrachtete, »warum es bei uns im
     ganzen Land kein einziges Hotel gibt, das ›Westen‹ heißt? ›Norden‹ gibt es, ›Süden‹ und ›Osten‹, aber ›Westen‹ – nicht eins.
     Als ob eine solche Himmelsrichtung gar nicht existiert.«
    Das heiße Wasser hatte man in der Stadt Tjumen tatsächlich ausgerottet wie den Klassenfeind. Aber bei einer solchen Hitze
     konnte man sich auch mit kaltem Wasser waschen. Der Komsomolze hatte ihnen immerhin Zimmer mit Dusche beschafft.
     
    Es war die Zeit der hellen Juninächte in Tjumen. In ihrem Zwielicht leuchteten an den vierstöckigen Plattenbauten Losungen
     in unheilvollem Rot: »Vorwärts zum Sieg des Kommunismus!«, »Es lebe die unzerstörbare Brüderlichkeit des Sowjetvolkes!«, »Das
     Volk und die Partei sind eins!«.
    Riesenhafte, quadratisch-muskulöse Arbeiter und Arbeiterinnen reckten auf drei Meter hohen Plakaten ihre gewaltigen Fäuste
     über die stillen, schmutzigen Straßen der schlafenden sibirischen Stadt.
    »Wäre ich ein Regisseur«, sagte Mitja, »dann würde ich unbedingt einen Film darüber drehen, wie diese roten fäusteschwingenden
     Ungeheuer nachts zum Leben erwachen,von den Plakaten steigen und durch die Plattenbauten marschieren, ein gruseliger, schweigender Trupp, der auf seinem Weg alles
     Lebendige hinwegfegt. Das

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