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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Partei und Komsomol wie auch die Chefredakteure sehr gut, daß das Volk gar nichts
     zur Sache tat. Aber keiner wagte es, das heilige Ritual anzutasten, das die Diener des Volkes sogar im engeren Kreis streng
     befolgten.
    Die Ressortleiter und die festangestellten Redakteure bevorzugten die südlichen, am Meer gelegenen Regionen für die Werbung
     von Abonnenten. Die freien Mitarbeiter und die Praktikanten schickte man nach Sibirien, in den Fernen Osten und an andere
     weniger einladende Orte. Im übrigen waren weder die Freien noch die Praktikanten darüber gekränkt. Auslandsreisen waren damals
     undenkbar, und selbst eine Reise durch die unendlichen Weiten der Heimat war nicht einfach. Erstens war sie nicht ganz billig,
     zweitens hatte man ohne Dienstreiseauftrag und Vorreservierung durch das Stadtparteikomitee kaum eine Chance, irgendwo in
     Nowosibirsk oder Abakan ein Hotelzimmer zu bekommen. Da hieß es dann, wir haben keinen Platz für dich, mein Lieber, schlaf
     auf dem Bahnhof oder, wenn du Glück hast, im »Haus der Kolchosbauern«, wo man dir ein Bett in einem Saal für dreißig Leute
     gibt, natürlich ohne Waschbecken und mit einer Toilettenbude am anderen Ende der Stadt.
    In Sibirien und dem Fernen Osten gibt es so viel Interessantes zu entdecken, besonders wenn man um die zwanzig ist und auf
     Staatskosten reisen kann. Das Tagegeld, zwei Rubel sechzig Kopeken, reicht für drei komplette Mahlzeiten, mit den Hotels gibt
     es keine Probleme. Als Vertreter einer großen, unionsweiten Jugendzeitschrift, eines Organs des Zentralkomitees des Komsomol,
     ist man eine offizielle Person, die abgeholt wird und Quartier, Essen und einen Chauffeur bekommt.
     
    Lena Poljanskaja, Olga und Mitja Sinizyn saßen auf einer Bank vor dem Flughafen der Stadt Tjumen, rauchten, reckten ihre Gesichter
     der grellen sibirischen Sonne entgegen und erörterten die Frage, ob sie noch warten oder auf eigene Faust mit dem Autobus
     zum Bezirkskomitee des Komsomol fahren sollten.
    Der vom Komsomol versprochene Wagen war nicht gekommen. Bekümmert betrachteten sie die endlose Schlange an der Bushaltestelle.
    »Werden sie uns womöglich gar nicht abholen?« fragte Mitja beunruhigt. »Es ist schließlich nur der Komsomol und nicht die
     Partei, und ihr seid bloß Praktikantinnen, und ich mit meinen Liedchen bin sowieso nur ein Anhängsel.«
    »Keine Panik«, beruhigte ihn Lena, »die Sekretärin des Chefs hat in meiner Gegenwart in Tjumen angerufen und gesagt, es kämen
     drei Mitarbeiter, ohne genauere Angaben.«
    »Wo werden sie uns wohl unterbringen?« Mitja war so leicht nicht zu besänftigen. »Ihr habt es gut, ihr kriegt ein Zimmer zusammen,
     aber mich steckt man womöglich zu einem Alkoholiker oder zu einem Schlafwandler oder einem kompletten Psychopathen.«
    »Du bist eine Nervensäge, Bruderherz«, seufzte Olga.
    »Nein, ich bin keine Nervensäge, ich bin nur ein gründlicher Mensch. Ich möchte gern alles im voraus wissen. Ihr zum Beispiel,
     ihr habt bestimmt weder einen Wasserkocher noch Tee oder Zucker mitgenommen. Aber hier gibt es alles nur auf Karten. Ich habe
     sogar zwei Büchsen gezuckerte Kondensmilch und eine Dose Sprotten in Tomatensauce mitgeschleppt.«
    »Sprotten gibt es hier garantiert auch«, sagte Lena spöttisch.
    »Wetten, daß nicht?« plusterte Mitja sich auf.
    »Um was?«
    »Zum Beispiel …« Mitja überlegte. »Um eine Büchse Kondensmilch.«
    »Er wettet mit dir um die dritte Büchse«, stichelte Olga, »die ist nämlich geplatzt. Dank seiner Umsicht ist jetzt unsere
     ganze Küche klebrig und schwarz.«
    »Mach dich nur lustig, Schwesterchen. Also gut, ich wette um eine normale Büchse, nicht um die geplatzte, daß es hier keine
     Sprotten in Tomatensauce gibt. Allenfalls gibt es das sogenannte Touristenfrühstück: Frikadellen aus gemahlenen Fischgräten,
     dazu Reis, der aussieht wie Mehlwürmer. Und das auch nur auf Karten. Wenn ich verliere, gehört die Kondensmilch dir. Was gibst
     du mir, wenn ich gewinne?«
    »Zwei Päckchen Zigaretten oder vielleicht etwas gemahlenen Kaffee.«
    »Es reicht, Kinder, hört auf mit dem Blödsinn, wir werden ohnehin alle zusammen trinken, essen und rauchen.« Olga winkte ab.
     »Da drüben scheinen unsere Komsomolzen eingetroffen zu sein!«
    Auf dem Platz stoppte ein tarnfarbener Geländewagen, und es sprang ein junger Mann heraus, der trotz der Hitze einen strengen
     dunkelgrauen Anzug trug. Auf dem Aufschlag des Jacketts blitzte hell das kleine

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