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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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im Traum …«
    sang die klare, tiefe Stimme.
    Lena hörte sich ein Lied nach dem anderen an. Kein Zweifel, Mitja hatte Talent. Aber seine hektische Suche nach einem Produzenten
     war sicher übertrieben. Die Lieder waren aus einer vergangenen Zeit, erinnerten an das Lebensgefühl Ende der siebziger, Anfang
     der achtziger Jahre. Heute war etwas ganz anderes gefragt.
    »Tobolsk im Regen und im Sturm«, sang es vom Band.
    Ja, natürlich, wir haben von unserer Reise nach Tjumen gesprochen, besann Lena sich. Den ganzen Abend haben wir von nichts
     anderem geredet. Und das nach vierzehn Jahren. Warum ist Mitja nur so hartnäckig immer wieder auf dieses Thema zurückgekommen?
    »Hell flammt das Feuerzeug auf
    im durchsichtigen Zelt deiner Hände.
    Du lebst noch. In Tobolsk stöhnt der Wind.
    Du lebst noch, und niemand ist da …«
    Das Lied war zu Ende, und auch das Band war fast zu Ende. Lena wollte die Kassette schon herausziehen undumdrehen, da hörte sie plötzlich ein Hüsteln, und Mitjas vom Singen etwas heisere Stimme sagte:
    »Vielleicht benehme ich mich dumm und unkorrekt, es wäre sicher einfacher, zur Staatsanwaltschaft zu gehen. Einfacher und
     ehrlicher. Aber ich habe kein Vertrauen zu unserer ruhmreichen Gerichtsbarkeit. In einem Jahr läuft die Verjährungsfrist ab.
     Im übrigen bin ich in juristischen Dingen nicht besonders beschlagen, ich will auch keinen Anwalt engagieren, der mir erklärt,
     wie ich Sie am besten erpressen kann und dabei selbst unbehelligt bleibe … Vielleicht werde ich mich mit diesem ekelhaften
     Kram auch überhaupt nicht befassen. Es widert mich an. Das Geld ist schnell durchgebracht, aber die Scham bleibt.«
    Das Band war zu Ende. Lena drehte die Kassette rasch um, hörte die andere Seite von Anfang bis Ende ab, aber es waren nur
     Lieder darauf. Sie holte sich die neueste Ausgabe des Strafgesetzbuches aus dem Bücherregal und suchte im alphabetischen Verzeichnis
     nach »Verjährungsfrist«.
    »Er dachte: ich weiß, ich werde es tun,
    genauso werde ich’s tun!
    Auf die geballte rote Faust
    setzte sich ein weißer Schmetterling …«
    erklang es vom Band.
    Lena lauschte dem Lied und las im Gesetzbuch: »Fünfzehn Jahre bei einem schweren Verbrechen … Die Frage, ob die Verjährungsfrist
     auf eine Person angewendet wird, die ein Verbrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht …, entscheidet das Gericht.
     Erachtet das Gericht es nicht für möglich, die betreffende Person nach Ablauf der Verjährungsfrist von der Verantwortung für
     das Verbrechen freizusprechen, werden Todesstrafe und lebenslange Haft nicht verhängt.«
    »Fünfzehn Jahre«, sagte Lena nachdenklich, »Mitja hat gesagt, die Frist wäre in einem Jahr abgelaufen. Das heißt,vierzehn Jahre sind seitdem vergangen. Vor vierzehn Jahren sind wir drei, Olga, Mitja und ich, nach Sibirien, ins Gebiet Tjumen,
     gefahren. Und eben darüber hat Mitja mit mir vor zwei Wochen gesprochen. Mein Gott, was sind das für Fieberphantasien? Wen
     wollte er denn erpressen? Und womit? Was hat Tobolsk damit zu tun und was die Verjährungsfristen?«
    Das Telefon klingelte. Lena fuhr zusammen. Wer ist denn das noch, so spät? dachte sie mit einem Blick auf die Uhr – es war
     halb eins.
    »Hallo, Lena«, sagte eine leise, unbekannte weibliche Stimme, in der ein leicht hysterischer Unterton schwang. »Entschuldigen
     Sie, ich habe Sie sicher geweckt. Kennen Sie mich noch?«
    »Nein.«
    »Ich bin Katja Sinizyna.«

Kapitel 12
    Tjumen, Juni 1982
    Eigentlich waren diese teuren und beschwerlichen Werbekampagnen völlig unnötig. Aber das Geld dafür kam vom Staat, mit anderen
     Worten – sie waren umsonst. Und die Journalistenzunft liebte diese Art Tingeltangel.
    Jeden Sommer sandten die großen Zeitschriften, allen voran die Jugendmagazine, ihre Mitarbeiter in alle Ecken des unermeßlichen
     sowjetischen Vaterlandes. Sie hielten Reden vor den Werktätigen in Städten und Dörfern und versuchten Abonnenten zu gewinnen.
     Abonnentenzahl wie auch Auflagenhöhe waren eine Prestigefrage und hatten nichts mit Kommerz zu tun. Weder das Gehalt der Mitarbeiter
     noch die Honorare der Autoren hingen in irgendeiner Weise von der Auflagenhöhe ab. Dafür hatte jedoch der Chefredakteur die
     Möglichkeit, im Falle des Falles derZensurbehörde die Millionenauflage seines angeblich vom Kurs abgekommenen Blattes unter die Nase zu reiben: Hier, das Volk
     liest uns, also ist unsere Politik richtig!
    Natürlich wußten sowohl die Funktionäre von

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