Die leichten Schritte des Wahnsinns
würde ein richtiger Horrorfilm.«
»Im sowjetischen Kino gibt es ein solches Genre nicht und wird es auch nie geben«, brummte Olga.
***
Seine Hände zitterten heftig. Dieser Disco-Abend schien überhaupt nicht enden zu wollen. Er spähte vorsichtig durch die Tür
und suchte sie, sein Mädchen, mit den Augen. Sie schüttelte und verrenkte sich zu einem Schlager aus dem vorletzten Jahr:
»Im Morgenrot sing mir leise
Vom Birkenland eine Weise,
Von der Heimat, die dir so lieb.«
Das Mädchen trug einen kurzen himbeerfarbenen Rock, der die kräftigen runden Hüften eng umspannte, und eine grellrosa Bluse
mit kurzen Ärmeln. Der üppige, mit rotem Lippenstift dick bemalte Mund lächelte leicht, die Augen waren halb geschlossen.
An dem runden, milchweißen Hals schaukelte und hüpfte ein billiger Anhänger – Neusilber mit Emailleüberzug, ein kleines Herz,
in seiner Mitte eine rote Rose mit grünem Blättchen. Die hellblond gefärbten glatten Haare waren rund ums Gesicht gekämmt.
Eine solche Frisur war nach den Konzerten der französischen Sängerin Mireille Mathieu in Mode gekommen.
Sie tanzte bereits den dritten Tanz mit ein und demselben Burschen, einem mageren, langhaarigen Halbaffen. Bei schneller Musik
ging er unbeholfen in die Knie und schüttelte die schmalen, hängenden Schultern, bei den langsamen Tänzen umfaßte er seine
Partnerin, legte sich geradezuauf sie, streckte seinen mageren Hintern in den sackartigen sowjetischen Jeans heraus und trampelte ungeschickt mit den Füßen.
Falls er auf die Idee kommt, sie nach Hause zu bringen, muß ich die Sache auf morgen verschieben, dachte er, oder ich muß
mir eine andere aussuchen, die allein nach Hause geht. Aber von den anderen Mädchen weiß ich nicht, welchen Weg sie nehmen,
aber sie, die Rosarote, muß über das Gelände hinter der Baustelle. Einen anderen Weg hat sie nicht.
»Natascha, soll ich dich nach Hause bringen?« flüsterte Petja Sidorkin seiner Partnerin ins Ohr.
»Mal sehen.« Sie zuckte unschlüssig die Schultern und schielte unauffällig auf das Paar neben ihnen.
Sie wünschte sich, Serjosha Russow möge sie nach Hause bringen, der breitschultrige, gutaussehende, nach ausländischem Eau
de Cologne duftende Serjosha. Aber Serjosha umarmte zärtlich die schlanke Taille von Marinka Saslawskaja.
»Nicht doch, Natascha«, sagte Petja, der ihren Blick bemerkt hatte, und schüttelte seine langen Zotteln. »Er hat dich doch
kein einziges Mal aufgefordert. Er geht seit dem Winter mit Marinka, weißt du das denn nicht?«
»Misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen!« zischte Natascha. »Ich komme auch ohne dich klar.«
Sie befreite sich aus Petjas Armen und ging rasch durch die tanzenden Paare auf den Ausgang zu.
»Natascha!« Petja rannte ihr hinterher. »Natascha, warte doch!«
»Verschwinde, du Trottel, du stehst mir bis hier!« sagte sie laut und huschte in die Dunkelheit hinaus.
Sie lief durch die menschenleeren Straßen und schluckte die Tränen hinunter. Seit dem ersten Schultag hatte ihr Serjosha Russow
über alle Maßen gefallen. Aber er hatte nie zu ihr herübergesehen. Was war sie auch gegen Marinka!Marinka sah aus wie Mireille Mathieu, sie war das hübscheste Mädchen der Schule.
Natascha war so jämmerlich zumute, daß sie die vorsichtigen Schritte nicht hörte, die ihr bereits seit der Schule folgten,
sich kein einziges Mal umsah und den großen, breitschultrigen jungen Mann in der dunklen Sportjacke aus dünnem Regenzeug nicht
bemerkte.
Sie kam erst zur Besinnung, als eine eiserne Hand ihr Mund und Nase zuhielt. Das war am Ende des Brachlandes hinter der verlassenen
Baustelle. Ringsum war keine Menschenseele. Natascha konnte nicht einmal mehr schreien.
***
»Genug geschlafen, ihr Faulpelze!« Mitja riß die Tür des Hotelzimmers auf. In der Hand hielt er eine große Tüte, aus der er
der Reihe nach eine Dose mit Zucker, einen Tauchsieder und das Brot von gestern hervorzog.
»Sie hätten wenigstens anklopfen können, Monsieur.« Lena setzte sich im Bett auf, gähnte ausgiebig und reckte sich. »Wie spät
ist es?«
»Halb neun. Um Viertel nach holt uns der wackere Komsomolze ab«, erklärte Mitja, »hol deinen Kaffee raus, wir wollen frühstücken.«
»He, wo ist denn deine berühmte Kondensmilch?« Olga kroch unter der Bettdecke hervor und schlurfte barfuß ins Bad.
»Die kriegst du schon noch. Nur jetzt nicht. Heute abend fahren wir schließlich nach Tobolsk, und wie soll
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