Die leichten Schritte des Wahnsinns
Sibirienreise als Dolmetscherin und Beraterin begleiten könntest. Ich möchte dafür nicht gern einen Fremden engagieren.
Die Reise wird nicht länger als zehn Tage dauern. Pro Tag kann ich Dir zweihundert Dollar zahlen. Alle mit der Reise verbundenen
Kosten, wie Hotels und Verpflegung, werden selbstverständlich von mir übernommen. Wenn nötig, kann ich für diese Zeit auch
einen Babysitter für Deine Tochter bezahlen. Der Termin für meine Anreise hängt nur von Deiner Entscheidung ab. Ich habe bereits
ein Ticket nachMoskau mit offenem Datum. Sobald Du mir Bescheid gibst, kann ich abfliegen. Ich warte auf Deinen Anruf.
Herzliche Grüße an Deinen Mann und Deine Tochter, Dein Michael.«
Es folgten mehrere Telefonnummern.
Bei Katja war immer noch besetzt. Lena schaute auf die Uhr: zehn vor zwei. Sie mußte auf jeden Fall in New York anrufen und
ja oder nein sagen. Warum eigentlich nein? Lisa konnte sie bei Vera Fjodorowna lassen und den beiden für diese Zeit vielleicht
den Aufenthalt in einem Erholungsheim in der Nähe von Moskau bezahlen. Das hatte sich Lena schon lange vorgenommen, und Vera
Fjodorowna hatte sie auch darum gebeten. Zweitausend Dollar für zehn Tage – das war eine hübsche Summe Geld. Außerdem lag
der Sommer noch vor ihnen, und Lisa war groß genug, um mit ihr ans Meer zu fahren. Dafür brauchte man eine Menge Geld.
Das Telefon schrillte – es war das langanhaltende Signal eines Ferngesprächs.
»Da haben wir’s!« dachte Lena, während sie den Hörer abnahm. »Das ist sicher Michael. Wie peinlich.«
»Lena! Mit wem hast du geschlagene zwei Stunden lang telefoniert?« hörte sie die Stimme ihres Mannes.
»Serjosha!«
»Ich habe solches Heimweh, ich zähle schon die Tage bis zur Rückfahrt. Wie sieht’s bei dir aus? Wie geht es Lisa?«
»Hier ist alles in Ordnung, Lisa ist gesund, hat Sehnsucht nach dir und fragt jeden Tag zehnmal, wann der Papa nach Hause
kommt.«
»Und du? Hast du Sehnsucht nach mir?«
»Natürlich, Serjosha, schreckliche Sehnsucht. Erzähl, wie geht es dir?«
»Nicht am Telefon, ich erzähle ausführlich, wenn ich zurück bin, ich muß die Eindrücke erst noch verdauen. Aber alles in allem
gut.«
»Serjosha, ich brauche deinen Rat. Ich habe gerade einen Brief aus New York gelesen, als dein Anruf kam.«
»Meinst du den, den ich aus dem Postkasten geholt habe? Hat der bis jetzt bei dir herumgelegen? Also weißt du!«
»Ja, genau der. Ich hatte einfach noch keine Zeit.«
Lena berichtete ihrem Mann, was in dem Brief stand.
»Wo ist das Problem?« fragte er. »Möchtest du fahren?«
»Ich weiß nicht. Einerseits ja. Zweitausend Dollar liegen nicht auf der Straße, und überhaupt … Aber andererseits war ich
noch nie so lange von Lisa getrennt, sie ist schließlich noch sehr klein.«
»Zehn Tage ist doch nicht so lange. Und du brauchst mal Tapetenwechsel und Ablenkung. Dort kannst du jedenfalls nicht nächtelang
am Computer sitzen.«
»Also du meinst, ich soll zusagen?«
»Ja. Ich finde, du solltest fahren. Eine Frage habe ich allerdings. Dieser Michael wird sich doch nicht an dich heranmachen?«
»Doch, natürlich«, lachte Lena. »Aber er wird es sehr rücksichtsvoll und unaufdringlich tun, wie ein echter Gentleman.«
»Fang mir ja keine Affäre mit diesem Gentleman an. Die Gelegenheit ist ja sehr günstig. Wenn du mir versprichst, nicht mit
ihm anzubändeln, lasse ich dich fahren.«
»Er ist dick, hat eine Glatze und eine Kartoffelnase, hält gern lange Vorträge über die Gefahren des Rauchens, stochert nach
dem Essen in aller Öffentlichkeit mit einem Zahnstocher in den Zähnen und schneidet dazu ein kluges Gesicht.«
»Ein echter Gentleman«, knurrte Sergej ironisch. »In dem Fall bin ich beruhigt.«
»Weißt du, ich möchte für diese zehn Tage Lisa mit Vera Fjodorowna in ein gutes Erholungsheim aufs Land schicken, wo sie an
der frischen Luft sind und Vera Fjodorowna keine Arbeit mit dem Einkaufen und Kochen hat. Michaelbietet mir an, einen Babysitter zu bezahlen, warum soll ich das nicht annehmen?«
»Eine gute Idee. Aber gib mir noch Bescheid, wohin du sie schickst.«
Nach dem Gespräch mit ihrem Mann hatte Lena sich endgültig wieder beruhigt. Es war höchste Zeit, in New York anzurufen und
zuzusagen. Vorher wählte sie noch einmal die Nummer von Katja Sinizyna, um ein reines Gewissen zu haben. Aber dort war noch
immer besetzt.
***
»Na, wie geht’s?« Regina Valentinowna tätschelte flüchtig über
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