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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Gelächter.
    »Soll der Ziegenbock doch aufs Eis gehen!« sagte einriesiger Sträfling mit Goldzähnen, der in der ersten Reihe saß, hingefläzt über zwei Stühle, und spuckte kräftig aus. Rechts
     und links von ihm saßen zwei Gorillas und fletschten die Zähne, die nicht aus Gold, sondern aus Stahl waren. Lena bemerkte,
     daß auf der Brust des Anführers unter der aufgeknöpften Sträflingsjacke ein großes goldenes Kreuz an einer dicken goldenen
     Kette blitzte.
    Im Saal war es still geworden. Der mit dem Goldkreuz hatte hier eindeutig das Sagen.
    »Na los doch, komm raus und wackel mit dem Hintern, Marussjenka«, ertönte in der Stille eine Stimme in heiserem Falsett.
    In den hinteren Reihen begann ein merkwürdiges Gepolter. Ein Wachoffizier wollte schon einen Schritt in diese Richtung tun,
     überlegte es sich dann aber anders, machte eine verächtliche Handbewegung und wandte sich ab, wobei er ganz wie ein Sträfling
     durch die Zähne spuckte.
    Eine Minute später schleifte man einen klapperdürren Burschen von etwa zwanzig Jahren auf die Bühne. Verlegen zog er die Schultern
     hoch. Sein Gesicht war mit Narben übersät, die von einer starken Pubertätsakne zurückgeblieben waren. Lena begriff augenblicklich,
     warum er den Spitznamen »Slepoi«, »der Blinde«, trug. Seine kleinen, tiefliegenden Augen waren unter den schweren, nackten,
     fast brauenlosen Stirnknochen kaum zu sehen. Als er auf der Bühne stand, sah man, daß die Augen zudem von einer seltsamen,
     sehr hellen Farbe und die Pupillen klein wie Punkte waren. Weiße Augen – wie ein Blinder.
    »Guten Tag.« Lena lächelte ihm so freundlich wie möglich entgegen. »Zuerst wollen wir uns einmal bekannt machen. Wie heißen
     Sie?«
    »Wassili Slepak«, murmelte er kaum hörbar.
    »Ich freue mich«, sagte Lena laut ins Mikrofon. »Siehören jetzt Gedichte des Nachwuchsdichters Wassili Slepak. Bitte sehr.«
    Er hatte seinen Spitznamen also von seinem Nachnamen und nicht wegen seiner seltsamen Augen.
    Lena drückte ihm das Mikrofon in die zitternden Hände und applaudierte leise. Auch Olga und Mitja begannen zu klatschen.
    Der Saal schwieg. Lena spürte die Anspannung, die in diesem Schweigen lag, geradezu körperlich. Es war eine ungute, explosive
     Stille. Wassili Slepak umklammerte mit feuchten Händen das Mikrofon. Und plötzlich ertönte in der Stille seine merkwürdig
     tiefe Stimme, die gar nicht zu der schmächtigen Gestalt passen wollte:
    »Ich liebte dich stets ohne Hoffen,
    du warst mein Glück und auch mein Schmerz,
    jetzt hast du tödlich mich getroffen,
    dem ärgsten Schuft gabst du dein Herz …«
    Brüllendes Gelächter erschütterte den Saal. Aber die tiefe Stimme übertönte den Lärm, er las ein Gedicht nach dem anderen.
    Dann trat Wassili Slepak schnell zu Lena, gab ihr das Mikrofon, sprang von der Bühne und lief durch den pfeifenden, lachenden
     Saal. Jemand stellte ihm ein Bein, und er stürzte der ganzen Länge nach hin.
    »Wassili!« rief Lena durchs Mikrofon. »Sie schreiben wunderbare, talentierte Gedichte! Ich werde mich darum bemühen, daß sie
     in unserer Zeitschrift veröffentlicht werden.«
    »Bist du verrückt geworden?« hörte sie Olga hinter sich flüstern. »Warum versprichst du ihm das? Das ist doch völlig unbegabtes
     Geschreibsel!«
    »Wassili!« sprach Lena weiter, als sie sah, wie sich die magere, gekrümmte Gestalt von dem vollgespuckten Fußboden im Gang
     zwischen den Reihen aufrappelte. »SchreibenSie uns, schicken Sie Ihre Gedichte in die Redaktion, Abteilung Literatur! Geben Sie nicht auf, schreiben Sie weiter. Sie
     haben großes Talent.«
    Das Gelächter und Pfeifen verstummte, der Saal begann erstaunt und drohend zu summen.
    »Wie wär’s, wenn ich dir schreibe«, fletschte der Rabauke in der ersten Reihe seine Goldzähne. »Wir werden gute Freunde und
     schreiben uns Briefe! Gibst du mir deine Privatadresse?«
    Lena sah nicht in seine Richtung und sagte ruhig ins Mikrofon:
    »Damit ist unser Treffen beendet. Ich wünsche Ihnen alles Gute und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
    »He, Grauäugige!« erklang in der Grabesstille wieder die Stimme aus der ersten Reihe. »Ich habe dir eine Frage gestellt. Gibst
     du mir deine Adresse?«
    »Die Adresse der Redaktion finden Sie in jeder Nummer unserer Zeitschrift auf der letzten Seite. Wir freuen uns über jede
     Zuschrift.«
    »Zur Hölle mit deiner Redaktion.« Der Goldzahn spuckte aus. »Wie steht’s, hast du einen Mann? Na, Grauauge?«
    Lena

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