Die leichten Schritte des Wahnsinns
zwölf schloß sie die Augen. Lena legte behutsam die überall verstreuten Spielsachen in die Kiste zurück und fand
all die Plüschtiere und Puppen viel zu groß und sperrig. Für die Reise wäre es besser, noch etwas Kleines, Kompaktes zu besorgen.
Morgen vormittag wollte sie sowieso mit Lisa einkaufen gehen – sie brauchte neue Schuhe und Strumpfhosen und eine Menge verschiedener
Kleinigkeiten.
Im Fernsehen begann gerade die »Straßenpatrouille«. Lena schaltete den Wasserkocher ein, setzte sich mit untergeschlagenen
Beinen aufs Küchensofa und steckte sich eine Zigarette an. Ohne auf den Bildschirm zu sehen, hörte sie zerstreut auf die Stimme
des Fernsehsprechers und überlegte, was sie morgen erledigen wollte. Tagsüber einkaufen und saubermachen, abends wollte Michael
kommen. Das hieß, sie mußte ein Abendessen kochen.
»In der Saslawski-Straße ist bei einem Wohnungsbrand eine Person ums Leben gekommen«, sagte der Sprecher im Fernsehen. »Gegen
drei Uhr morgens wurden die Bewohner im Erdgeschoß und im ersten Stock durch starken Brandgeruch geweckt. Eine Wohnung im
Erdgeschoß stand in Flammen. Die Feuerwehr fand darin die Leiche einer jungen Frau. Die Tote, Jekaterina Sinizyna, lebte seit
kurzem allein. Nach Auskunft der Nachbarn führte sie ein zurückgezogenes Leben und war keine Alkoholikerin.«
Lena fuhr zusammen und starrte wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem jetzt ein Feuerwehrmann zu sehen war.
»Die vorläufige Untersuchung hat ergeben, daß der Brand durch Rauchen im Bett verursacht wurde«, sagte der Feuerwehrmann.
»Ich möchte an dieser Stelle noch einmal wiederholen: Das ist der häufigste Grund für Wohnungsbrände mit tragischem Ausgang.
Seien Sie bitte vorsichtig.«
Danach folgte die Auflistung der Verkehrsunfälle. Lena stellte den Fernseher ab und rief Olga an.
»Ja, ich weiß«, seufzte Olga, »das war zu erwarten. Sie hat sich eine riesige Menge Morphium gespritzt, eine tödliche Dosis,
und ist mit brennender Zigarette eingeschlafen.«
»Der Brand ist etwa um zwei Uhr nachts ausgebrochen?«
»Ja, um drei stand schon alles in Flammen.«
»Ich habe bis kurz nach zwei mit ihr telefoniert. Dann kam irgendeine Frau zu Besuch. Katja hat sich entschuldigt, den Hörer
neben das Telefon gelegt und ist zur Tür gegangen. Und danach war die ganze Zeit besetzt. Olga, sie istumgebracht worden. Das haben dieselben Leute getan, die auch Mitja ermordet haben. Nach außen sieht wieder alles glatt, logisch
und unangreifbar aus. Ein erfolgloser Sänger probiert zusammen mit seiner süchtigen Frau Drogen aus und erhängt sich. Künstler
sind bekanntlich schwierige Persönlichkeiten. Und einige Tage später kommt seine Frau durch einen Unglücksfall ums Leben,
wie er für Alkoholiker und Drogensüchtige typisch ist. Das ist dieselbe Handschrift.«
Lena verstummte, sie hörte, wie Olga leise schluchzte.
»Olga, beruhige dich, bitte, nimm dich zusammen. Gestern abend wolltest du Katja nicht zuhören. Jetzt paß mal auf, was sie
mir vorgelesen hat.«
Lena ging mit dem Telefon ins Schlafzimmer, schaltete den Computer ein und öffnete die Datei »Rabbit«.
»Die Worte standen auf einem zerknüllten Blatt Papier, das in Mitjas Jackentasche lag. Und hier ist noch ein zweiter Text,
er war auf der Kassette mit den Liedern, die Mitja mir gegeben hatte, ganz am Ende des Bandes.«
»Willst du etwa behaupten, Mitja hat versucht, jemanden zu erpressen?« fragte Olga mit heiserer Stimme, nachdem Lena alles
vorgelesen hatte.
»Zumindest hat er es überlegt. Natürlich hat er sich dagegen entschieden. Es war ihm zuwider. Olga, du mußt versuchen, dich
an alle eure Gespräche der letzten Zeit zu erinnern. Und guck noch mal gründlich bei dir zu Hause nach, vielleicht ist noch
mehr da – eine Notiz oder eine Tonbandaufnahme. Vielleicht hat er ja den Kalender und das Telefonbüchlein bei euch liegenlassen.«
»Gut«, schluchzte Olga, »ich will es versuchen. Aber der Kalender und das Telefonbüchlein sind bestimmt nicht bei uns. Du
weißt doch, bei uns ist immer alles tipptopp aufgeräumt. Einfach so liegt da nichts herum, jedes Ding hat seinen Platz.«
Nach dem Gespräch mit Olga wählte Lena sofort dieNummer von Mischa Sitschkin. Während sie auf das Freizeichen lauschte, fiel ihr ein, daß Xenia, Mischas Frau, das Telefon
nach zwölf Uhr meist abstellte. Jetzt war es schon zwanzig vor eins.
Lena war inzwischen überzeugt, daß die geheimnisvolle
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