Die leichten Schritte des Wahnsinns
Ganz Tobolsk redete über diesen furchtbaren Mord, auch in Chanty war er
Stadtgespräch. ›Wo ist nur mein Gedächtnis hin‹«, sang er unerwartet laut.
Einige Leute, die an der Bar saßen, drehten sich nach ihnen um.
»Du bist betrunken, Sinizyn«, sagte Wenja leise. »Fahr nach Hause.«
»Nein, Komsomolze. Ich bin nicht betrunken. Ich bin keine höhere Tochter, die nach fünfzig Gramm Kognak aus den Latschen kippt.
Weißt du, ich wollte eigentlich schon alles vergessen. So viele Jahre sind vergangen. Ich habe selber jede Menge Probleme.
Und da auf einmal seh ich dich in der Glotze, wie du einer devot lauschenden Journalistin irgendwas von Wohltätigkeit vorschwafelst.
Gleich nach dem Interview mit dir wurde eine Folge aus der Reihe ›Russische Kriminalfälle‹ gezeigt. Es ging um den Serienmörder,
der Anfang der achtziger Jahre im Gebiet Tjumen sein Unwesen trieb. Er vergewaltigte und ermordete sechs Mädchen zwischen
fünfzehn und achtzehn Jahren. Vier hat er erwürgt, zweien die Kehle durchgeschnitten. Er wurde gefaßt. Ein abstoßender Kerl,
Alkoholiker. Er ging in die Falle, als er an einer Bierbude billigen Schmuck verkaufen wollte, den er seinen Opfern abgenommen
hatte. Aber er gab keinen einzigen Mord zu. Man konnte machen, was man wollte – und man hat ihn gründlich in die Mangel genommen.
Schließlich wurde er erschossen. Ein Geständnis hat er bis zum Schluß nicht abgelegt – bis zur letzten Minute versicherte
er, er sei kein Mörder. Wie gefällt dir diese Geschichte, Komsomolze?«
Mitja sprach leise und schnell. Wolkow hörte ihm schweigend zu. Er spürte, daß sein Hemd unter den Achseln klatschnaß war.
»Jetzt sitzt du hier bleich und schwitzend vor mir und weißt nicht, was du sagen sollst.« Sinizyn grinste spöttisch. »Sag
mir, daß du dich erinnerst, wie wir nach Tobolsk gekommen sind, daß du dich an Lena Poljanskaja und an meine Schwester Olga
erinnerst. Und daß du mich sofort erkannt hast. Daß du die Mädchen nicht ermordet hast. Sag es, Wenja. Dein Wort genügt mir,
ich werde dir glauben. Zugegeben, zuerst wollte ich dich ein bißchen erpressen. Aber dann widerte mich der Gedanke an. Ich
brauche weder dein Geld noch deine Videoclips oder deinen Werberummel. Sag nur einfach, daß du diese sechs Mädchen nicht umgebracht
hast. Ich werde dir aufs Wort glauben. Also?«
»Du bist betrunken. Schlaf deinen Rausch aus«, sagte Wolkow leise und fügte laut hinzu: »Verschwinde, du stehst mir bis hier!«
»Wie du meinst«, sagte Mitja schulterzuckend, stand auf, stürzte seinen kaltgewordenen Kaffee hinunter, ging zur Theke, bezahlte
und verließ ohne Eile die Bar.
Wolkow konnte Regina nicht sofort von diesem Gespräch erzählen, denn sie war nicht in Moskau. Sie war für drei Tage nach Paris
geflogen.
Als sie wiederkam, fuhr sie direkt vom Flughafen in den Club »Status«, wo die Präsentation des neuen Albums von Juri Asarow
stattfand. Solche überraschenden Auftritte und Szenenwechsel waren ganz nach ihrem Geschmack.
Sie flanierte durch den Saal, wechselte mit allen wichtigen Leuten ein paar Worte und war bereits im Begriff, zusammen mit
Wenja aufzubrechen. Asarow begleitete sie zum Ausgang. Da plötzlich stand, wie aus dem Erdboden gestampft, Sinizyn vor ihnen.
Unbegreiflich, wie er in diesen Club gekommen war, noch dazu in Jeans undPullover. Er trat ganz dicht an Wenja heran und sagte leise:
»Hör mal, Komsomolze, du hattest damals kein Nasenbluten, du hast gelogen. Das war das Blut des ermordeten Mädchens. Und den
Herzanhänger hast du der Toten in Tjumen abgenommen. Du erinnerst dich doch an den Discoabend in der Berufsschule? Weißt du,
wie das Mädchen hieß? Natascha! Ihre Mutter ist noch im Krankenwagen an einem Herzinfarkt gestorben. Der Säufer, der hingerichtet
wurde, hat kein Geständnis abgelegt, weil er unschuldig war. Er ist an deiner Stelle erschossen worden, Komsomolze.«
Sinizyn sprach immer lauter, aber der Lärm der herausgeputzten, flanierenden Menge übertönte seine Worte. Als erste kam Regina
zur Besinnung.
»Gibt es hier nun einen Sicherheitsdienst oder nicht, verflucht noch mal!« sagte sie gelassen. »Schafft uns diesen Verrückten
vom Hals!«
Zwei breitschultrige Burschen in untadelig sitzenden Anzügen zerrten Sinizyn zum Ausgang.
»Du bist ein Mörder, Komsomolze! Ein wahnsinniger Serienkiller bist du! Regina Valentinowna, er wird Sie umbringen! Seien
Sie auf der Hut!« schrie Mitja,
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