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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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schreiben.
    Im Laufe der Zeit sammelten sich bei Lena rund dreihundert solcher Bekenntnisbriefe an, die an die Redaktion geschickt und
     an sie persönlich adressiert worden waren. Viele von ihnen bewahrte sie auf – sie brachte es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen.
    Jetzt suchte sie mitten in der Nacht in dem Haufen alter Papiere einige Briefe, die sie aus Tobolsk und Tjumen bekommen hatte.
     Einen davon fand sie fast sofort.
     
    »Guten Tag, sehr geehrte Jelena Nikolajewna!
    Es schreibt Ihnen Nadeshda Iwanowna Sacharowa. Von meinem Sohn Oleg Sacharow, Oberleutnant der Miliz, bekamen Sie eine seiner
     Erzählungen zur Lektüre. Sie haben ihm sehr freundlich und ausführlich geantwortet. Auch wenn Sie die Veröffentlichung abgelehnt
     haben, so haben Sie ihm doch einige wichtige literarische Ratschläge gegeben.
    Mein Sohn Oleg wurde von einem Banditen mit einem Messerstich ins Herz getötet. Ich schicke Ihnen hier seine letzte Erzählung.
     Ein Kamerad von ihm hat sie auf der Schreibmaschine für Sie abgetippt. Möge Ihnen diese Erzählung eine Erinnerung an ihn sein.
    Ich wünsche Ihnen alles Gute, Gesundheit und Frieden.
    Nadeshda Sacharowa, Tobolsk, 12. November 1984.«
     
    Der Brief war mit einer Büroklammer an das Manuskript geheftet. Die Erzählung hieß »Gerechtigkeit«. Auf zehn Schreibmaschinenseiten
     wurde die seltsame Geschichte eines Untersuchungsführers erzählt, der einen Mordverdächtigenvernehmen mußte, jedoch nicht an dessen Schuld glaubte. Sein Gefühl sagte ihm, daß der Mörder ein anderer war.
    Im Mittelpunkt der Geschichte standen nicht Fakten und Beweisstücke, sondern allgemeine Überlegungen. Lena kam es plötzlich
     so vor, als berühre der verstorbene Oberleutnant in seiner Erzählung absichtlich nichts Konkretes. Vielleicht ging es ja um
     eine reale, »heiße« Sache, und er bewahrte als vorsichtiger Milizionär sogar in einem literarischen Werk die vorgeschriebene
     Diskretion. Völlig schweigen konnte er nicht, dazu beunruhigte ihn die Sache zu sehr, so daß er beschloß, eine Erzählung zu
     schreiben.
    Am Ende der Geschichte triumphierte die Gerechtigkeit. Der Unschuldige wurde freigelassen, seine hochbetagte Mutter schluchzte
     an der Brust des edlen Ermittlers, und den wirklichen Mörder, den verschlagenen, kaltblütigen Verbrecher, schleppte man schwerbewacht
     zur Anklagebank.
    »Sacharow, Sacharow, bist du etwa dieser gewissenhafte, ehrliche Ermittler? Hat man dich deshalb ermordet?« Lena merkte gar
     nicht, daß sie laut sprach.
    Sie legte das Manuskript und den Brief beiseite und suchte weiter. Sie fand noch einen weiteren Brief – aus einem Straflager
     mit einer langen Chiffrenummer. Aber Lena wußte, daß dieses Lager sich in der Nähe von Tjumen befand.
     
    »Grüß Dich, Lena!
    Danke, daß Du ein Gedicht von mir in Deiner Zeitschrift veröffentlicht hast. Du hast in der Tat mein Lieblingsgedicht ausgewählt,
     mit Deinen kleinen Korrekturen bin ich einverstanden. So ist es wirklich besser. Und danke auch dafür, daß Du diese Nummer
     meiner Mutter geschickt hast. Sie läßt Dich ehrerbietig grüßen.
    Bei mir sieht es gar nicht gut aus. Genauer gesagt – beschissen. Mein Vater steht wegen Mordes vor Gericht. Er soll sechs
     junge Mädchen ermordet haben. Blödsinn ist das.Es stimmt, er säuft, für eine Flasche Schnaps würde er seine Seele verkaufen, und meine Mutter und mich hat er oft verdroschen.
     Aber ein Mörder ist er nicht. Niemals könnte er so ein Mädel vergewaltigen, würgen und abschlachten.
    Einzelheiten schreibe ich nicht. Du weißt selber, weshalb. Ich will einfach nur mit Dir reden, ich habe sonst niemanden. Meine
     Mutter hat sich schon die Augen ausgeweint.
    Schreib mir – einfach so, worüber, ist ganz egal, was Du möchtest. Hauptsache, Du schreibst.
    Ich wünsche Dir, daß Du einen netten jungen Mann triffst, heiratest und Kinder bekommst. Vielleicht bist Du ja schon verheiratet?
     Schreib mir auch davon.
    Wassili Slepak. 6. April 1984.«
     
    Er hatte keine Einzelheiten geschrieben, weil die Briefe der Gefangenen zensiert wurden. Und ein Brief, in dem von einem Verbrechen
     die Rede war, konnte aus Zensurgründen zurückgehalten werden.
    Es lag nun schon viele Jahre zurück, daß Lena ihr Versprechen erfüllt und für den von allen verachteten Gefangenen Wassili
     Slepak die Veröffentlichung seines Gedichtes durchgesetzt hatte. Es hatte große Anstrengungen und eine Menge Nerven gekostet.
    Gedichte, die Autoren »von der Straße«

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