Die leichten Schritte des Wahnsinns
während er sich gehorsam zum Ausgang begleiten ließ.
Als Regina sich umdrehte, begegnete sie dem aufmerksamen, kalten Blick Asarows …
Kapitel 21
Michael war dicker geworden und hatte sich einen Bart wachsen lassen. Sein Kopf war kahl wie ein Knie, und mit seiner Körperfülle
und seinem kleinen Wuchs erinnerte er an einen straff gespannten, fröhlich hüpfenden Tennisball.
»Weißt du, ich bin entsetzlich hungrig! Das vegetarische Essen im Flugzeug war widerlich«, ratterte er in seinemrauhen Brooklyn-Englisch los. »Du siehst fabelhaft aus. Und das ist Mister Krotow, wenn ich mich nicht irre?« Er schüttelte
Goscha erbarmungslos heftig die Hand.
»Nein, Michael, Mister Krotow ist im Moment in London, das ist Goscha. Wir sind Arbeitskollegen.«
»Joshua? Wunderbar! Sprechen Sie Englisch?«
»Ein wenig«, erklärte Goscha, der Anglistik studiert hatte, bescheiden.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, schnatterte Michael weiter. »Wie geht’s, wie steht’s? Was hast du gesagt, wo ist dein
Mann? In London? Steven hat mir erzählt, du hättest einen Polizeiobersten geheiratet. Herzlichen Glückwunsch! Und der hat
sich nach London aufgemacht, um Scotland Yard zu helfen? Hahaha!«
Die ganze Fahrt über machte Michael den Mund nicht zu. Lena antwortete mit einem zerstreuten Nicken und sagte ab und zu »Ja,
natürlich« oder »Wirklich? Nicht möglich!«. Sie dachte an Wolkow. Warum löste ihr Name bei einem Menschen, der sie seit vierzehn
Jahren nicht gesehen hatte, eine so stürmische Reaktion aus? Das ist doch wirklich albern – ein millionenschwerer Produzent,
der bis zu den Ellbogen in Scheiße und Blut steckt, erschrickt vor einem Namen … das kann doch nichts mit längst vergangener
Leidenschaft zu tun haben. Und trotzdem, irgendeine Verbindung zu früher muß es geben.
Zu Hause war alles vorbildlich aufgeräumt und das Geschirr gespült. Vera Fjodorowna hatte sogar daran gedacht, das Bett für
Michael auf dem Sofa im Wohnzimmer zu machen.
»Es ist schon spät«, erklärte Michael, »ich weiß, ihr Russen liebt es, nachts in der Küche Tee zu trinken. Aber wenn du erlaubst,
nehme ich lieber eine Dusche und gehe schlafen. Morgen früh will ich in die Tretjakow-Galerie. Ich habe gelesen, daß sie endlich
wieder geöffnet ist.«
Lena war froh, noch ein Weilchen in Ruhe sitzen zu können. Goscha hatte eine Tasse Tee getrunken und war dann nach Hause gefahren.
In der Wohnung schliefen alle. Es war schon halb drei, und Lena wußte, sie würde nicht einschlafen können.
Dieser schreckliche Tag wollte kein Ende nehmen. Sie nahm eine kleine Stehleiter aus dem Wandschrank, stieg hinauf und holte
vom obersten Küchenregal den Staubsaugerkarton, in dem sie alte Manuskripte und Briefe aufbewahrte.
In sowjetischen Zeiten hatte die Hälfte der Bevölkerung sich literarisch betätigt. Berge von Manuskripten wurden an die Zeitschriftenredaktionen
geschickt – hauptsächlich Gedichte, aber ab und zu war auch Prosa darunter. Diese Tonnen von Volkskunst galt es zu lesen,
zu rezensieren und dem Autor mit detaillierter, fundierter Antwort zurückzuschicken.
Es schrieben alle – Pioniere und Kriegsveteranen, Traktorfahrer und Melkerinnen, Bergleute und Flieger, Hochseematrosen und
Hausfrauen. Die meisten Gedichte aber kamen aus den Gefängnissen und Straflagern. Sie übertrafen alle anderen Texte an Patriotismus
und Linientreue. Die Einbrecher und Vergewaltiger schrieben Verse über Lenin, die Partei und den Sieg des Kommunismus. In
der Regel gaben sie freimütig die Paragraphen an, nach denen sie ihre Frist verbüßten, wobei sie »zu Unrecht und gesetzwidrig
verurteilt« hinzuzufügen pflegten.
Ein schon in die Jahre gekommener Mörder scheute die Mühe nicht, gab den ganzen Text der Sowjethymne mit eigenen Worten wieder,
schrieb seine Gedichte in einer ordentlichen Kolonne auf eine Heftseite, umrahmte sie mit einem roten Band aus geflochtenen
Ähren, malte in die eine Ecke das Profil von Lenin, in die andere das von Breshnew und am unteren Ende Hammer und Sichel.
Nicht selten waren die literarischen Erzeugnisse vonlangen Briefen begleitet, in denen der Verfasser sein ganzes Leben schilderte und sein Herz ausschüttete. Das war oft weit
interessanter als die Texte selbst. Gewöhnlich waren die Autoren zutiefst einsame Menschen, und ihre holprigen Vierzeiler
waren nur der Anlaß, sich einmal auszusprechen, eine Antwort zu bekommen und noch einmal zu
Weitere Kostenlose Bücher