Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
Sie färbte ihre Wangen weder mit Honigmilch noch mit spanischem Weiß, wie es die Schönheiten des Himmlischen Reiches zu thun pflegen, malte keinen Carminstreifen um die Unterlippe oder einen kleinen verticalen Strich zwischen die Augen, noch gebrauchte sie irgend ein Schminkpflästerchen, für welche der kaiserliche Hof jährlich zehn Millionen Sapeken ausgiebt. Die junge Witwe bedurfte solcher Hilfsmittel nicht. Sie verließ ihr Haus an der Cha-Chua-Allee nur selten und verachtete die entstellende Maskirung, der sich die chinesischen Frauen bedienen, wenn sie sich auf die Straße begeben.
    In der Kleidung hielt sich Le-U so einfach als möglich und trug sich doch stets höchst elegant. Ein langes, vierfach geschlitztes und mit breitem gestickten Rande umsäumtes Oberkleid, darunter einen faltigen Rock, der an der Taille mit golddurchwirkter Borte festgehalten wurde, am Gürtel befestigte Beinkleider, die an den seidenen Strümpfen zusammengeknüpft waren, reich mit Perlen verzierte Pantoffeln, kurz, es fehlte der jungen Witwe nichts, wenn man dazu bemerkt, daß sie kleine seine Händchen hatte und ihre langen und rosenrothen Nägel sorgsam in kleinen silbernen und sein ciselirten Fingerhütchen pflegte.
    Und ihre Füße? Nun, diese waren klein, doch nicht in Folge der gebräuchlichen barbarischen Gewohnheit, welche sich zum Glück mehr und mehr zu verlieren scheint, sondern weil die Natur sie so geschaffen hatte. Die erwähnte grausame Mode besteht schon seit siebenhundert Jahren und verdankt ihren Ursprung wahrscheinlich einer von Natur verstümmelten Prinzessin. Das Verfahren dabei ist sehr einfach, indem die Mittelfußknochen nach unten zusammengebogen werden, während der Fersenknochen intact bleibt, wodurch der Fuß zu einer Art Klumpen verunstaltet wird, der das Gehen fast ganz verhindert, zur Blutarmuth Veranlassung giebt, und für welche Verunstaltung wahrscheinlich keine andere Ursache zu entdecken ist, als die Eifersucht der Ehemänner. Jetzt läßt man, seit dem Einfall der Tataren, allmälich von dieser Mode. Unter zehn Chinesinnen finden sich heutzutage schon kaum noch drei, welche im zartesten Alter dieser schmerzhaften Operation unterworfen worden wären, die jene Formenveränderung des Fußes zur Folge hat.
    »Es ist ganz unmöglich, daß heute kein Brief ankommen sollte! sagte Le-U noch einmal. Sieh’ doch einmal nach, alte Mutter.
    – Ist schon geschehen!« antwortete Mamsell Nan schnippisch und ging murmelnd aus dem Zimmer.
    Le-U wollte zum Zeitvertreib ein wenig arbeiten. Auch dabei mußte sie ja an Kin-Fo denken, denn sie stickte ihm ein Paar Strümpfe, deren Herstellung jeder chinesischen Frau, sie mag einer Gesellschaftsclasse angehören, welcher sie wolle, stets überlassen ist. Bald fiel ihr aber die Arbeit aus den Händen. Sie erhob sich, nahm aus einem Behälter einige Wassermelonen, welche sie mit den kleinen Zähnen brach, und schlug dann ein Buch auf, den »Nushun«, den Codex von Vorschriften, den jede rechtschaffene Frau tagtäglich ein Weilchen durchlesen muß.
    »So wie der Frühling die geeignetste Zeit zur Arbeit ist, so ist auch der frühe Morgen die beste Zeit des Tages.
    »Steh’ zu guter Stunde auf und überlaß Dich nicht zu lange der Süßigkeit des Schlafes.
    »Besorge den Maulbeerbaum und den Hanf.
    »Spinne fleißig Seide und Baumwolle.
    »Der Frauen Tugend ist Thätigkeit und Sparsamkeit.
    »Die Nachbarn werden Dich loben….«
    Da fiel ihr das Buch zu. Die zärtliche Le-U dachte gar nicht mehr an das, was sie las.
    »Wo ist er wohl jetzt? fragte sie sich. Er wollte nach Canton reisen. Mag er schon nach Shang-Haï zurückgekehrt sein? Wann wird er in Peking ankommen? War das Meer ihm hold? Möge die Göttin Koanine ihn beschützen!«
    So sprach die junge Frau in der Unruhe ihres Herzens. Dann streiften ihre Augen wie von ungefähr eine aus Tausenden von Stückchen kunstreich zusammengesetzte Tischdecke, eine Art portugiesischer Stoff-Mosaikarbeit, welche eine Mandarinen-Ente mit ihren Küchlein, das Sinnbild der Treue, darstellte. Endlich näherte sie sich einem Blumenständer und pflückte auf’s Gerathewohl eine Blüthe.
    »O, sagte sie, die Blüthe der grünen Weide, das Bild des Frühlings, der Jugend und der Freude! Und hier das gelbe Chrysanthemum, das Bild des Herbstes und der Trauer!«
    Sie wollte die Angst verscheuchen, die sich ihrer jetzt unwillkürlich bemächtigte. In der Nähe hing ihre Laute; leise ertönten die Saiten; ihre Lippen sangen die ersten

Weitere Kostenlose Bücher