Die Leiden eines Chinesen in China
Lippen.
Kin-Fo erhob sich darauf, ging mehrmals im Zimmer auf und ab und näherte sich auch dem Sprachrohre, das ihn mit Wang in unmittelbare Verbindung setzte. Schon setzte er das Mundstück an, um den Genannten anzurufen; doch er besann sich eines Besseren, ließ den Kautschuk fallen und streckte sich wieder auf dem Divan aus.
»Pah!« machte er, tief athmend.
Der ganze Kin-Fo sprach sich in dieser Silbe aus.
»Und sie! murmelte er. Sie ist bei der ganzen Geschichte eigentlich viel mehr interessirt als ich!«
Er näherte sich darauf einem lackirten Tischchen, auf dem ein länglich viereckiges, kostbar geschnitztes Kästchen stand. Schon wollte er es öffnen, doch zögerte seine Hand noch einmal.
»Was enthielt denn ihr letzter Brief?« murmelte er.
Statt den Deckel jenes Kästchens zu lüften, löste er jetzt eine Feder an dessen schmaler Seite aus.
Sofort ließ sich eine sanfte Stimme vernehmen.
»Mein lieber kleiner älterer Bruder! Bin ich nicht mehr Deine Meihua-Blume im ersten Monde, Deine Aprikosenblüthe im zweiten und Deine Pfirsichblüthe im dritten Monde? Mein theures Herz von kostbarem Edelstein, ich grüße Dich tausend, zehnmal tausendmal!….«
Es war die Stimme der jungen Witwe, deren zärtliche Worte der Phonograph naturgetreu wiedergab.
»Arme kleine jüngere Schwester!« sagte Kin-Fo.
Dann öffnete er das Kästchen, entnahm demselben das mit seinen Strichen bedeckte Blättchen, welches eben alle Modulationen der entfernten Stimme getreulich hervorgebracht hatte, und ersetzte es durch ein anderes.
Der Phonograph besaß schon die vollendete Construction, daß es hinreichte, mit mäßig lauter Stimme hineinzusprechen, um die schwingende Membran in Bewegung zu setzen, wobei eine durch Uhrwerk gleichmäßig getriebene Welle die Worte auf dem eingelegten Blättchen fixiren ließ.
Etwa eine Minute lang sprach Kin-Fo. Aus seiner gleichmäßig ruhigen Stimme hätte Niemand errathen können, ob ihm die Gedanken unter dem Einflusse der Freude oder Traurigkeit aufstiegen.
Drei bis vier Sätze, nicht mehr, das war Alles, was Kin-Fo sprach. Dann hemmte er die Bewegung des Phonographen und entnahm demselben das Blättchen, auf welchem die von der Membran bewegte Nadel feine schiefe Striche verschiedener Länge, seinen Worten entsprechend, erzeugt hatte; dieses Blättchen schob er in ein Couvert ein, versiegelte dasselbe und schrieb darauf, doch von der rechten zur linken Seite:
»Ist schon geschehen!« antwortete Mamsell Nan. (S. 46.)
»Madame Le-U,
Cha-Cyua-Allee.
Peking.«
Eine elektrische Klingel rief sofort den Diener herbei, dem die Beförderung der Correspondenz oblag. Er erhielt Auftrag, den Brief sofort zur Post zu besorgen.
Eine Stunde später schlummerte Kin-Fo ganz friedlich, wobei er in den Armen seinen »Tchu-Fu-jen« hielt, das ist eine Art Schlummerrolle aus seinem Bambusgeflecht, mittelst welcher man sich auch in chinesischen Betten eine unter jenen warmen Himmelsstrichen besonders geschätzte erträgliche Temperatur zu sichern vermag.
Fünftes Capitel.
In welchem Le-U einen Brief erhält, den sie wahrscheinlich lieber nicht erhalten hätte.
»Du hast noch keinen Brief für mich?
– Nein, Madame!
– O, wie mir die Zeit so lang wird, alte Mutter!«
So sagte die reizende Le-U wohl schon zum zehnten Male in ihrem Boudoir der Cha-Chua-Allee in Peking. Die »alte Mutter«, die ihr antwortete und der sie diese, in China für bejahrtere Dienerinnen gebräuchliche Bezeichnung gab, war die mürrische und nichts weniger als angenehme Mamsell Nan.
Mit achtzehn Jahren hatte Le-U einen Gelehrten ersten Grades geheirathet, der an dem berühmten Sse-Khu-Tsuane-Chu 1 mitarbeitete. Der würdige Mann war noch einmal so alt wie sie und starb schon im dritten Jahre dieser etwas unpassenden Ehe.
Die junge Witwe stand also mit einundzwanzig Jahren allein in der Welt. Kin-Fo sah dieselbe bei Gelegenheit einer Reise, die er zu jener Zeit nach Peking machte. Wang kannte die liebenswürdige Person schon von früher her und suchte die Aufmerksamkeit seines theilnahmlosen Schülers auf sie zu lenken. Kin-Fo befreundete sich nach und nach mit dem Gedanken, seine bisherige Lebensweise aufzugeben und die junge Witwe heimzuführen. Le-U zeigte sich nicht unempfindlich gegen diesen Antrag. Jetzt sollte die Hochzeit, welche zur größten Befriedigung des Philosophen wirklich festgestellt worden war, gefeiert werden, sobald Kin-Fo, nach Anordnung alles Nothwendigen in Shang-Haï, nach
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