Die Leiden eines Chinesen in China
Unterhaltung allmälich lästig wurde, kurz, und wendete sich zur Thüre des Cabinets.
»Kennen Sie Deparcieux?« (S. 53.)
– Ganz der Ihrige!« gab der ehrenwerthe William J. Bidulph, indem er sich vor dem neuen Clienten der »Hundertjährigen« verbindlich verneigte, schnell zurück.
Am folgenden Tage machte der Gesellschaftsarzt seinen vorgeschriebenen Besuch bei Kin-Fo. »Ein Körper von Eisen, Muskeln von Stahl, Lungen wie Orgelpfeifen«, so lautete sein Bericht. Es bestand kein Hinderniß für die Gesellschaft, den Vertrag mit einer von Natur so vorzüglich ausgestatteten Persönlichkeit abzuschließen.
Hierauf sollte der Katafalk folgen. (S. 61.)
Die Police wurde also am nämlichen Tage von Kin-Fo einerseits, zu Gunsten der jungen Witwe und des Philosophen Wang, und andererseits von William J. Bidulph als Vertreter der Gesellschaft vorschriftsmäßig unterzeichnet und vollzogen.
Weder Le-U noch Wang sollten, abgesehen von ganz außerordentlichen Umständen, nicht eher erfahren, was Kin-Fo für sie gethan habe, als an dem Tage, wo die »Hundertjährige« in die Lage kam, ihnen das versicherte Capital, die letzte Wohlthat des Millionärs, auszuzahlen.
Siebentes Capitel.
Das sehr traurig wäre, wenn es sich darin nicht um einige, dem Himmlichen Reiche eigenthümliche Sitten und Gebräuche handelte.
Was der ehrenwerthe William J. Bidulph auch sagen und denken mochte, diesesmal war die Casse der »Hundertjährigen« in ihren Beständen ganz ernstlich bedroht. Kin-Fo’s Plan gehörte nicht zu denen, deren Ausführung man, nach reiflicher Ueberlegung, auf unbestimmte Zeit vertagt. Vollständig ruinirt, wie er war, hatte Wang’s Schüler den festen Entschluß gefaßt, einem Leben ein Ende zu machen, das ihm selbst, als er noch Reichthümer besaß, nichts als tödtliche Langweile geboten hatte.
Der ihm von Soun acht Tage nach seinem Eintreffen übergebene Brief kam aus San-Francisco. Er brachte die Mittheilung von der Zahlungseinstellung der Centralbank von Californien. Kin-Fo’s Vermögen bestand nun, wie wir wissen, zum weitaus größten Theile aus Actien dieser so berühmten und bis zur Stunde als unbedingt sicher geltenden Bank. Doch ließ die Thatsache keinen Zweifel aufkommen. So unwahrscheinlich die Sache auch klang, war sie doch leider nur zu wahr. Die Zahlungseinstellung der Californischen Centralbank fand in den nach Shang-Haï gelangenden Zeitungen ihre Bestätigung. Der Concurs war eröffnet worden und Kin-Fo damit ein ruinirter Mann.
Außer den Actien dieser Bank blieb ihm ja nichts, oder doch fast nichts übrig. Der immerhin schwer ausführbare Verkauf seiner Wohnung in Shang-Haï konnte ihm nur unzureichende Geldmittel liefern. Die achttausend Dollars, welche er als Prämie in die Casse der »Hundertjährigen« eingezahlt, nebst wenigen Actien der Dampfer-Compagnie von Tien-Tsin, die, wenn er sie heute auf den Markt brachte, ihn höchstens für die allernächste Zeit über Wasser zu halten vermochten, das war jetzt sein ganzes Eigenthum.
Ein Abendländer, ein Engländer oder Franzose, hätte diesen Schicksalsschlag vielleicht mit Ruhe hingenommen und sich durch ernste Arbeit ein neues Leben zu gründen gesucht. Ein Kind des Himmels dagegen mußte im Rechte zu sein glauben, wenn es anders dachte und handelte. Als Chinese von echtem Schrot und Korn gedachte Kin-Fo sich durch einen freiwilligen Tod aus dieser Lage zu befreien und überlegte sich das mit der größten Gewissensruhe und der typischen Gleichgiltigkeit, welche die gelbe Race auszeichnet.
Der Chinese besitzt sozusagen nur einen passiven Muth, diesen aber in hohem Grade. Seine Gleichgiltigkeit gegen den Tod ist wahrhaft erstaunlich. Ist er krank, so sieht er ihn ohne Anwandlung von Schwäche herannahen; als Verurtheilter zeigt er selbst unter der Hand des Henkers keine Furcht. Die so häufigen öffentlichen Hinrichtungen, der Anblick der entsetzlichen Strafen, welche das Gesetzbuch des Himmlischen Reiches vorschreibt, haben den Sohn des Himmels beizeiten an den Gedanken gewöhnt, die Freuden dieser Welt ohne Bedauern zu missen.
Hiernach wird man auch weniger erstaunen, in allen Familien fast tagtäglich eine Unterhaltung über den Tod mit anzuhören. Er steht hier keinem Ereignisse des Lebens fremd gegenüber. Der Cultus der Vorfahren findet sich selbst bei den ärmsten Leuten pietätvoll entwickelt. Es giebt kein reiches Haus, wo man nicht einen Raum als Familien-Heiligthum reservirte, keine elende Hütte, in
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