Die Leidenschaft des Cervantes
andere Mensch auch, aber den Großteil der Zeit lebte er in einer anderen Welt. Ich besuchte ihn nicht mehr aus morbider Neugier heraus, schon seit Jahren hatte ich nicht mehr versucht, von ihm Informationen über die bedeutenden Menschen in seiner Bekanntschaft zu erfahren. So schwer es mir zuzugeben fiel, er war der einzige Mensch, der mir nahestand.
Don Luis begann von einem Roman zu sprechen, den er zu schreiben gedachte. Das überraschte mich, daran hatte er nie zuvor Interesse geäußert. Bei einem meiner Besuche sagte er: »Pascual, ich muss mich beschäftigen. Es gibt Menschen, die Gefallen daran finden, nichts zu tun, aber zu der Sorte gehöre ich nicht. Wie Er weiß, fühle ich mich sehr zur Dichtung hingezogen, doch heutzutage lese ich einige Verse und verstehe nicht, was da steht. Seit meinen Studententagen träume ich davon, einen Roman zu schreiben. Vielleicht ist die Zeit gekommen, einen Versuch zu unternehmen.«
»Das ist eine wunderbare Nachricht«, sagte ich. »Wenn die Frage nicht allzu unverfroren ist, darf ich mich erkundigen, worum es geht?«
»Oh, ich habe erst Skizzen für einige Figuren geschrieben.« Er zögerte, als überlegte er, inwieweit er mir die nächste Information anvertrauen konnte. »Meine Hauptfigur beruht auf Rodrigo Cervantes«, sagte er dann. »Ja, Miguels Erzeuger.«
Er hatte Cervantes’ Namen seit Langem nicht mehr erwähnt. 1596 hatte ich erfahren, dass Miguel Cervantes seine Stelle als Steuereintreiber aufgegeben hatte. Meinen Berechnungen zufolge hatte er bis zu diesem Zeitpunkt fast zehn Jahre in der Position gearbeitet. Als ich diese Nachricht hörte, dachte ich bei mir: Jetzt ist er am Ende. Möge Gott diesem erbarmungswürdigen Mann beistehen, den eine Wolke des Elends begleitet, wo immer er auch hingeht. Im folgenden Jahr erstaunte es mich zu hören, dass er erneut im Gefängnis einsaß, weil in den Rechnungsbüchern, die er in den Jahren seiner Dienste für die Krone geführt hatte, weitere gravierende Unregelmäßigkeiten entdeckt worden waren. Diese Auskünfte behielt ich für mich. Es hatte den Anschein, als sei Miguel Cervantes für Don Luis schon vor langer Zeit gestorben und zu Staub zerfallen.
»Pascual«, sagte er und riss mich aus meinen Erinnerungen, »wie würde es Ihm gefallen, als mein Amanuensis zu arbeiten? Ich suche nach jemandem, der hier im Haus lebt.«
»Don Luis, das wäre die größte Ehre meines Lebens«, sagte ich rasch. Als er begann, die Entlohnung meiner Aufgaben darzulegen, hörte ich nicht mehr, was er sagte. Selbst in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir niemals vorzustellen gewagt, ich würde eines Tages in einem der großen Häuser Spaniens wohnen. Wie sehr wünschte ich mir, meine Mutter wäre noch am Leben, um sich an meinem großen Glück zu erfreuen.
Die Arbeit im Königlichen Indienrat war nach Don Luis’ Ausscheiden unerträglich geworden. Ohne ihn als Vorgesetzten war ich zu dem öden Leben zurückgekehrt, aus dem er mich errettet hatte, als er mir die Aufgabe übertrug, Cervantes nachzuspionieren. Mir fehlten die notwendigen Verbindungen, um meine Laufbahn als Beamter zu befördern. Jeder Posten, den ich als Regierungsbeamter bekommen könnte, wäre ebenso tödlich wie derjenige, den ich die vielen Jahre im Indienrat innegehabt hatte. Es würde lediglich bedeuten, in ein anderes düsteres Gebäude zu ziehen, mit anderen trostlosen Menschen zu arbeiten und andere Stapel verstaubter Dokumente von hier nach dort zu schieben. Aber ich war auf eine Arbeit angewiesen. Don Luis konnte sich dafür entscheiden, nicht zu arbeiten, doch ich brauchte eine bezahlte Stellung, um zu überleben.
Und dann war da noch eine andere Sache: Ich war soeben fünfunddreißig geworden und noch immer ledig. Ich hatte mich mit einer Gruppe Hidalgos angefreundet, die häufig zum Spielen Tavernen aufsuchte, in denen Verkehr beider Arten gegen Geld angeboten wurde. Der Sekretär des Königs, Antonio Pérez, war ein bekanntes Mitglied dieser Kreise.
Ich konnte mich von dem Leben, das ich entdeckt hatte, nicht losreißen, ebenso wenig, wie ich verhindern konnte, dass mir im Gesicht Haare sprossen. Ich gab mich den vorzüglichen Freuden des Körpers hin, obwohl die Kirche jede Art sinnlichen Vergnügens als unmoralisch verdammte. Den Sekretär des Königs schützten seine Verbindungen und seine Nähe zum Monarchen, doch bei mir war es nur eine Frage der Zeit, bis Andeutungen gemacht würden, und dann lief ich Gefahr, festgenommen und angeklagt zu
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