Die Leidenschaft des Cervantes
größte Quell der Freude bestand für sie darin, den lieben langen Tag am Schreibtisch zu sitzen, Papiere zu ordnen und Tinte zu vergeuden. Im Indienrat wusste jedermann von meiner Freundschaft mit Don Luis und behandelte mich entsprechend.
Bei einem unserer Nachtmahle fiel mir auf, dass Don Luis noch niedergedrückter als üblich aussah. Ich konnte nur warten und hoffen, er würde mir berichten, was ihn bekümmerte. An dem Abend berührte er sein Essen kaum, trank aber mehr Wein, als ich ihn je hatte trinken sehen. Das überraschte mich, denn er war kein Mann, der Ausschweifung schätzte. Bis nach Mitternacht saßen wir in dem Gasthaus, und ich machte mir Sorgen, denn er war sichtlich berauscht und nuschelte bloß noch. Doch der Gedanke an seine Sänftenträger, die draußen auf ihn warteten, beruhigte mich. Ich versuchte ihn aufzuheitern, indem ich ihm Klatsch von den anderen Beamten und aus der Welt der Dichter erzählte, dem ich noch etwas pikante Würze verlieh, um ihn aus seiner düsteren Stimmung zu reißen. Obwohl er mir direkt gegenübersaß, kam es mir vor, als säße er so weit entfernt, dass meine Stimme ihn nicht erreichte.
Aus schweren Augen sah er mich an, sein Schweigen bereitete mir Unbehagen. Schließlich sagte er: »Er hat nie meinen Sohn kennengelernt.« Warum verwendete er die Vergangenheitsform? Ich wusste, dass Pater Diego Lara in Toledo lebte. Das war höchst ungewöhnlich: Don Luis sprach nie über sein Privatleben. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Nun«, sagte er, »Dieguito, mein geliebter Sohn, die einzige Freude meines Lebens, ist in die Neue Welt gefahren, um die Indianer zu bekehren. Das Schiff mit ihm an Bord ist vor zwei Wochen aus Sevilla abgesegelt. Hätte ich von seinem Vorhaben gewusst«, fuhr er fort, wegen des vielen Weins kamen ihm die Worte nur schleppend über die Lippen, »hätte ich ihn daran gehindert. O ja«, sagte er heftig und schüttelte die Faust, »ich hätte Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, damit er hier in Spanien bleibt!«
Er brach zusammen und begann haltlos zu schluchzen. Es war so spät, dass wir die letzten Gäste im Mesón de los Reyes waren. Die junge Frau, die uns bediente, trat an unseren Tisch. Ich bedeutete ihr mit einer Geste zu gehen.
»Pascual«, er packte meine Hand und setzte wieder zu reden an. »Solange Diego in Spanien war und ich ihn sehen konnte, gab es einen Funken Glück in meinem Leben. Aber jetzt, jetzt«, seine Stimme stieg an, er schüttelte den Kopf, »jetzt werde ich ihn wohl nie wiedersehen. Ach, Pascual«, schloss er, »vielleicht straft Gott mich für das Leben, das ich geführt habe.«
Ich sagte: »Don Luis, es ist sehr spät. Ihr solltet nach Hause gehen.«
Mit der Hilfe eines Angestellten aus der Taverne trug ich ihn hinaus zu seinem Sessel. Als ich ihm stützend eine Hand auf den Rücken legte, spürte ich nichts als Knochen unter seiner Haut. Der Mann, den wir in seinen Tragsessel hoben, ein spanischer Grande, hatte so viel Leben in sich wie eine zerbrochene Marionette.
Don Luis’ Prophezeiung bewahrheitete sich: Ende 1592 erfuhr ich durch einen meiner Mittelsmänner, dass Miguel de Cervantes im September im Dorf Castro del Río kurzzeitig ins Gefängnis geworfen worden war. Was genau man ihm zur Last gelegt hatte, verstand ich nicht, und die Einzelheiten aus zweiter Hand zu erfahren trug nicht zur Erhellung der Umstände bei. Offenbar war Cervantes vorgeworfen worden, königliche Einnahmen unterschlagen und einen Teil der Gelder für persönliche Zwecke verwendet zu haben. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Ich behielt die Nachricht für mich, da Don Luis ihn kaum mehr erwähnte.
Zwei Jahre, nachdem der junge Diego Lara in die Neue Welt aufgebrochen war, traf in Spanien die Nachricht ein, dass er im Vizekönigreich Neu-Granada von Kannibalen getötet und gegessen worden war. Sein Schrumpfkopf wurde in einem Dorf der Motilón-Indianer gefunden und dem Gouverneur von Cartagena geschickt, der ihn Don Luis überbringen ließ. Ganz Madrid war entsetzt.
Don Luis kehrte nie mehr an seine Arbeitsstelle zurück. Zu seinem Nachfolger wurde Don Carlos Calatrava ernannt, der Spross einer spanischen Adelsfamilie. Ich machte mir Sorgen um meine Zukunft. Wenn mir gekündigt würde, wie sollte ich dann meine alte Mutter und meine Tante ernähren? Würde dieser Mann uns alle (wie es üblich war) mit seinen eigenen Leuten und den Freunden seiner Freunde ersetzen? Würde ich Don Luis je wiedersehen? Jetzt, da er keine
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