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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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Gefahr, in den Kerker zu kommen, bis er ein alter Mann war. Er verkaufte von der Abfindung meiner Schande alles, was sich verkaufen ließ, den Rest verpfändete er. So konnte er seine Gläubiger bezahlen, und dann blieb immer noch genügend Geld übrig, dass er mit der Familie nach Madrid ziehen konnte.
    Wie Ihr wisst, Don Luis, sind Ehre und Tugend der einzig wahre Schmuck einer Frau. Ohne sie ist das schönste Mädchen hässlich. Bevor wir Sevilla verließen, wollten meine Eltern mich überreden, dass ich zur Rettung meiner Ehre (womit sie meinten, zur Rettung der Familienehre) meine Tochter als Findelkind weggab. Ich schwor, wenn sie das täten, würde ich zuerst die Kleine und dann mich umbringen. Jeder in Sevilla weiß doch, was mit den armen Kindern passiert, die im Schutz der Dunkelheit vor eine Klosterpforte gelegt werden: Die wilden Schweine und Hunde, die im Morgengrauen durch die Gassen streunen, finden die Kleinen meist vor den Nonnen und fressen sie auf. Das Einzige, was von den unglückseligen Engelchen zurückbleibt, sind dunkle Blutflecken, manchmal noch Knochensplitter und winzige rosafarbene Stückchen ihres Fleischs.«
    Mir war flau im Magen, ich wollte aus dem Raum und vor ihrem schaurigen Geständnis davonlaufen. Doch Andrea redete unaufhörlich weiter. »Ihr wisst, wie es ist, wenn ein Mädchen seine Jungfräulichkeit außerhalb der Ehe verliert: Sie wird als abscheuliches Ungeheuer gebrandmarkt, als Basilisk. Ich sagte, ich würde mit meiner Tochter als Schäferin in die Berge bei Granada gehen, dann müssten meine Eltern nicht mit meiner Schande leben. Jesus Christus und seiner heiligen Mutter sei Dank, meine Eltern verzichteten auf ihren Plan, meine Tochter wegzugeben, und wir verließen Sevilla gemeinsam. In Madrid kennt uns niemand. Meine Eltern ersannen die absurde Geschichte, ich sei die Witwe eines Mannes namens Nicolás de Ovando, der in Sevilla an einem schweren Fieber gestorben sei. Deswegen seht Ihr mich hier, Don Luis, bei lebendigem Leib begraben, mit einem Herzen, das zu Holz geworden ist. Ich sage Euch, hätte ich nicht meine Tochter, ich hätte mich – Gott vergebe mir! – schon vor langer Zeit getötet.«
    Als Andrea mit ihrer schrecklichen Erzählung geendet hatte, erhob sie sich von ihrem Kissen. Ihr schönes Gesicht war bleich wie das einer Marmorstatue – vollkommen, aber leblos. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand sie in dem dunklen Gang zum hinteren Teil der Wohnräume, wo jetzt ihr Kind wieder greinte. Während ich allein im schwachen Licht der Öllampe in diesem Raum saß, wurde mir bewusst, dass ich hier soeben ein unaussprechliches Dunkel der Welt kennengelernt hatte. Ich schüttelte den Kopf, um das Grauen zu vertreiben, dem ich ausgesetzt worden war. Warum hatte Andrea ihr schreckliches Geheimnis verraten? Woher wusste sie, dass ich diese schändliche Geschichte nicht nutzen würde, um die Ehre ihrer Familie zu besudeln? Ich konnte es mir nur mit dem Gedanken erklären, dass sie sich mir anvertraut hatte, um ihren Vater zu beschämen, dem sie offenbar die Schuld an ihrem Unglück gab.
    Ich beschloss, den Vorfall weder Miguel noch irgend jemand anderem gegenüber zu erwähnen. Indem Andrea, die Schwester meines Freundes, sich mir anvertraut hatte, hatte sie mir ungebeten eine große Last aufgebürdet; schlimmer noch, durch ihr abscheuliches Geheimnis hatte sie mich zu ihrem Gefangenen gemacht.
    Als ich beinahe dreißig Jahre später Miguels Don Quijote Teil I las, erkannte ich in Andrea das Vorbild für Marcela, die wunderschöne Schäferin, die für den Tod eines Mannes verantwortlich gemacht wird, der unsterblich in sie verliebt gewesen war. Ich frage mich, ob Andrea je den Roman ihres Bruders gelesen hat und wie sehr es sie wohl getroffen haben muss, dass er der Welt ihre beschämende Vergangenheit offenbarte. Da erkennt Ihr den größten Unterschied zwischen Miguel und mir als Schriftsteller. Miguel de Cervantes mangelte es an Fantasie, er bediente sich einfach des wirklichen Lebens. Ich hingegen gelangte im Lauf der Jahre zu der Überzeugung, dass wahre Literatur mitnichten ein Vorwand für eine kaum verhüllte Autobiografie ist. In den verkommenen Zeiten, in denen zu leben ich verdammt bin, ist das für niemanden zu erkennen. Doch in der Zukunft, davon bin ich überzeugt, werden die wirklich großen Schriftsteller jene sein, die Geschichten, welche vervollkommnet werden müssen, nicht nur umschreiben, sondern tatsächlich neu schreiben. In der

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