Die Leidenschaft des Cervantes
zu meinem Diener und bedeutete ihm, das Zimmer zu verlassen. Mercedes setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Ich schob meinen Teller zur Seite und trank einen Schluck Wein. Im Kerzenlicht sah sie wie ein Geistwesen aus, als habe sie lange nicht mehr geschlafen. Das Funkeln in ihren Augen machte mir Sorge. »Ist Diego etwas zugestoßen?«, fragte ich.
»Nein, Diego ist wohlauf, Gott sei gedankt. Er schläft schon.« Dann fuhr sie fort: »Als Leonela nach Hause kam, erzählte sie mir die Nachricht von Miguel de Cervantes und seinem Bruder. Luis, warum hast du mich angelogen? Warum hast du mir gesagt, er wäre bei Lepanto gestorben?«
Dass sie sich nach all den Jahren immer noch für Miguel interessierte, verletzte mich, und diese Kränkung wollte ich ihr vergelten. Also hatte ich mir das alles nicht bloß eingebildet; mein Misstrauen war durchaus begründet gewesen. Ich sagte: »Ich dachte nicht, dass es dich kümmert, ob er lebt oder tot ist. Als ich ihn besser kennenlernte, wurde mir klar, dass er kein Freund war, sondern mir schaden wollte. Ich wollte seinen Namen nie wieder in meinem Haus erwähnt hören. Was mich betrifft, ist er tot.«
»Schon als wir Kinder waren, Luis, habe ich deine Rechtschaffenheit bewundert, deinen Sinn dafür, was richtig und was falsch ist«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte vor Zorn. »Im Gegensatz zu mir, zu den meisten anderen Menschen, hielt ich dich für unfähig zu lügen. Du warst für mich der Inbegriff spanischer Männlichkeit, und ich war überzeugt, dass ich keinen besseren Mann als dich finden könnte. Deswegen habe ich dich von Kindheit an geliebt, nicht auf die Art, wie man einen Cousin liebt, sondern so, wie man einen Ehemann liebt. Deswegen habe ich die Vorstellung, dass wir eines Tages heiraten würden, akzeptiert. Was romantische Liebe war, wusste ich nicht – abgesehen davon, wie sie in Ritterromanen beschrieben wird –, darum verwechselte ich die Bewunderung, die ich für dich empfand, mit Liebe.«
An dem Punkt hätte ich sie auffordern müssen, nicht weiterzusprechen und meine Gemächer zu verlassen. Besser noch, ich hätte selbst gehen sollen. Ich wusste, je mehr sie sagen würde, desto schwieriger wäre der Schaden an unserer Ehe wiedergutzumachen. Doch stattdessen senkte ich den Kopf und schwieg, obwohl ich am liebsten geschrien hätte: »Wenn ich zum Lügner geworden bin, Mercedes, dann, weil Miguel de Cervantes mich dazu gezwungen hat! Im Gegensatz zu ihm bin ich nicht zum Hochstapler geboren!«
Mercedes’ Gesicht verzerrte sich und wurde noch blasser. Sie erhob sich und ging, die Fäuste gegen die Brust gepresst, vor mir auf und ab.
»Meine Gefühle für dich waren zwar aufrichtig und rein«, fuhr sie fort, »aber ich wusste, dass ich dich nicht so liebte, wie eine Frau ihren Mann lieben sollte. Ich dachte, dass ich dich wegen deiner wunderbaren Eigenschaften im Lauf der Zeit so zu lieben lernen würde, wie ich es sollte. Doch in dem Moment, als ich Miguel de Cervantes sah, regte sich etwas, das in meinem Herzen geschlafen hatte.« Tränen traten ihr in die Augen, und die Hände, die sie jetzt auf die Wangen gelegt hatte, zitterten vor Anspannung. Offenbar war Mercedes unfähig, ihre Worte zu mäßigen oder zu verstehen, welche Wirkung sie auf mich hatten. »Mit Miguel kam das Lachen in meine einsame Welt. Er weckte meine Fantasie, er brachte mich zum Träumen. Er verkörperte die Welt, von der ich abgeschirmt wurde. Wie oft hatte ich nicht an die bedauernswerten Frauen gedacht, die bestraft worden waren, weil sie sich als Männer verkleideten, um in die Welt hinauszugehen und all die Dinge zu sehen, die man nicht mit eigenen Augen sehen kann, wenn man eine Frau ist und gezwungen, den Großteil des Lebens hinter den Mauern eines Hauses zu verbringen. Als Miguel durch unsere Haustür trat, war es, als wäre die Welt – der Teil der Welt, den ich nur erahnen konnte – zu mir gekommen. Er stand für das Wissen von Dingen, die ich nicht kannte und nach denen ich mich sehnte.«
Die Gründe für ihren Verrat waren haltlos. Hätte sie mir gestanden, wie gerne sie die Welt um uns her sehen würde, hätte ich ihr gezeigt, was außerhalb der Mauern des Hauses in Toledo lag. Doch trotz des stechenden Schmerzes, der in meinem Herzen brannte, war ein Teil von mir auch erleichtert: Mein Misstrauen war doch nicht grundlos gewesen, ich hatte Mercedes nicht falsch verdächtigt, ich brauchte sie nicht um Verzeihung zu bitten, sie war nicht die Verkörperung
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