Die Leidenschaft des Cervantes
später in Toledo war, fragte meine Großmutter, die jeden Morgen die Frühmesse besuchte, beim Abendessen: »Luis, ist Rodrigo Cervantes mit deinem Freund Miguel verwandt?« Zum ersten Mal seit Miguels Flucht aus Madrid wurde sein Name in meiner Gegenwart erwähnt. »Ich habe seinen Namen heute morgen auf einem Flugblatt an der Kirche gelesen.«
»Ich habe die Liste der Überlebenden gelesen, die in Alcalá veröffentlicht wurde«, sagte ich. »Miguels Name war nicht darunter.« Ich hielt den Kopf gesenkt und starrte auf die gebratene Lammkeule, die auf dem Tisch stand. Plötzlich wurde mir übel von dem Fleisch, das vor mir auf dem Teller lag. Ich wagte es nicht, in Mercedes’ Richtung zu sehen. Das Schweigen am Tisch bedeutete offenbar, dass man erwartete, ich würde noch mehr sagen. » Abuela , du kannst dir vorstellen, ich bin sehr traurig. In den Jahren, bevor ich nach Alcalá ging, war er mein bester Freund. Einen solchen Freund hatte ich zuvor nie gehabt.« Dabei hätte ich es bewenden lassen sollen, aber ich hörte mich weiterreden: »Ich wollte euch die Nachricht ersparen, aber jetzt kann ich ja sagen, dass einer meiner Mitschüler in Madrid zufällig Miguels Vater getroffen hat. Don Rodrigo sagte, dass Miguels Leiche nicht gefunden wurde. Als er während der Schlacht das letzte Mal gesehen wurde, war er tödlich verletzt. Don Rodrigo befürchtet, dass seine Leiche auf den Grund der Bucht von Korinth gesunken ist.« Das war die größte Lüge, die ich je erzählt hatte, eine derart infame Lüge, dass ich mich fragte, ob es wohl eine Todsünde war, jemandem, den man kannte, den Tod zu wünschen, oder überhaupt irgendjemandem. Aber jetzt war es zu spät. Ich konnte nicht die Zeit zurückdrehen und meine Worte zurückzunehmen.
»Das tut mir leid zu hören«, sagte mein Großvater. »Ich weiß, dass er wie ein Bruder für dich war. Möge Gott ihm gnädig sein.« Er bekreuzigte sich.
Meine Großmutter bekreuzigte sich ebenfalls. »Ich werde eine Messe für seine Seele lesen lassen«, sagte sie.
Ich sah zu Mercedes: Ihre Augen waren geschlossen, eine glitzernde Träne rann ihr über die Wange.
Einige Monate nach der Szene im Garten hörte ich wieder von Miguel. Der Schurke war immer noch am Leben. Dieses Mal füllte er seine Briefe mit jammervollen Geschichten über die Wunden, die ihm im Kampf gegen die Türken zugefügt worden waren, und klang dabei, als habe er durch seinen Heldenmut die osmanische Flotte eigenhändig geschlagen. Wenn er nicht prahlte, beklagte er sich über seine langsame Genesung in den italienischen Hospitälern und den Verlust seiner linken Hand. Freude durchflutete mich, als ich von seiner Verkrüppelung las. Gleichzeitig verabscheute ich mich dafür, dass ich mich am Elend eines anderen Menschen weidete, zumal eines Menschen, den ich einmal rückhaltlos geliebt hatte. Ich wusste, dass dieses Gefühl eine Sünde und unchristlich war, selbst einem Feind gegenüber, aber mein Hass war stärker als mein Glaube.
In seinen Briefen beschwor mich Miguel, mich bei hohen Beamten am Königshof, die ich dank meiner Familie kannte, dafür zu verwenden, dass die Nachzahlung seines Solds beschleunigt und ihm die Pension zuerkannt würde, die einem behinderten Soldaten zustand. Ich verbrannte seine Briefe.
Praemonitus pramunitus, wie mein Vater zu sagen pflegte. Warum sollte ich es dem Zufall überlassen? So unwahrscheinlich es erschien – was, wenn es Miguel irgendwie doch gelänge, nach Spanien zurückzukehren? Ich wusste, dass das Rad der Fortuna unberechenbar war in seinen Drehungen. War meine Angst gerechtfertigt oder irrational? Ich würde nie zulassen, dass Miguel mir Mercedes wegnahm. Trotzdem, ich musste etwas unternehmen.
Mercedes heiratete mich bei einer privaten Zeremonie in Toledo, an der nur unsere Familie teilnahm. Der Tag, der einer der glücklichsten meines Lebens hätte sein sollen, wurde überschattet von den Umständen, unter denen Mercedes ihre Meinung geändert hatte. Hatte sie gehofft, Miguel würde nach Spanien zurückkehren?
Meiner Eifersucht zum Trotz hätte ich mir keine schönere, keine rücksichtsvollere oder sanftere Ehefrau wünschen können. Unser einträchtiges häusliches Leben ließ darauf hoffen, dass wir in unserer Ehe ebenso glücklich werden würden wie meine Eltern in ihrer. Und was Miguel betraf, so war Mercedes jetzt meine Frau. Selbst wenn er sich wieder nach Kastilien durchschlagen sollte, konnte er sie mir nicht wegnehmen.
Mercedes blieb bei
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