Die Leidenschaft des Cervantes
unser neues Zuhause eine der vornehmen Residenzen von Madrid. Und eine Weile kehrte tatsächlich das alte Funkeln in Mercedes’ Augen zurück. Doch als die Monate vergingen und wir uns in unserem neuen Leben einrichteten, galt ihre Sorge wieder einzig und allein Diegos Wohlergehen. Leonela war als Mercedes’ Zofe zu uns gezogen, sie beaufsichtigte die Dienstboten, arrangierte die Möbel, hängte die Porträts unserer Vorfahren auf, überwachte die Arbeit des Gärtners und plante mit der Köchin unsere Mahlzeiten.
Dank des Einflusses meiner Familie bekam ich eine Stellung bei der Eintreibungsbehörde der Guardas von Kastilien. Mein Amt war dafür zuständig, im ganzen Königreich die Steuern einzutreiben, mit denen das Heer und die Marine des Königs sowie öffentliche Arbeiten finanziert wurden. Für diese Arbeit musste ich durch ganz Spanien reisen und die Bücher unserer Revisoren überprüfen. Es bereitete mir großes Vergnügen, Spanien kennenzulernen und selbst die abgelegensten Gegenden zu besuchen, doch immer freute ich mich, nach Hause zurückzukehren, wo Diego mich mit seinem süßen Lächeln, mit Küssen und Umarmungen begrüßte. Mein Sohn hatte zwar nicht zu weinen aufgehört, tat es jetzt jedoch lautlos und nur im Schlaf. Manchmal saß ich nachts an seinem Bett und sah seine Tränen fließen, oft so stark, dass morgens sein Kissen nass war. Die angesehensten Ärzte von Madrid untersuchten ihn und erklärten, er sei zwar klein für sein Alter, aber bester Gesundheit. Eines Tages, als er bereits alt genug war, um verständig zu sein, fragte ich: »Sag mir, mein Sohn, hast du nachts Schmerzen? Zeig mir, wo es weh tut.«
»Es tut nicht weh, papá , aber hier ist es ganz traurig«, antwortete er sanft und legte seine kleine Hand auf seine Brust, über dem Herzen.
Ich erzählte niemandem von diesem Gespräch. In mir wuchs die Überzeugung, dass das Weinen meines Sohnes ein Zeichen Gottes war. Sollte Diego einer Seiner Heiligen sein? War er auf die Welt gekommen, um für die Sünden der Menschen Tränen zu vergießen? Für meine Sünden?
Mercedes und ich hatten keine andere Wahl, als Diegos chronich nach ihrem Leben, wenn ich nicht in Madrid war. Ihre Antwort war unweigerlich eine Litanei: »Diegos Gesundheit verlangt meine ständige Aufmerksamkeit, Luis. Er ist nicht wie andere Kinder. Ich habe kein anderes Leben. Ich will kein anderes Leben. Wenn mein Sohn krank ist, bin auch ich krank.«
Bei den Regierungsbeamten war Korruption gang und gäbe, weshalb ich meine Arbeit mit beispielhafter Redlichkeit auszuführen versuchte. Meine Gewissenhaftigkeit fiel meinen Vorgesetzten ins Auge, und recht bald belohnte seine Katholische Majestät meine Aufmerksamkeit mit einem bedeutenden Posten bei den Guardas . Ich würde in Madrid arbeiten, und zwar in einem Gebäude, der zu Las Cortes gehörte.
Es konnte Diego nicht guttun, ständig nur von Frauen umgeben zu sein. Wegen der Angst vor Kinderkrankheiten durfte er keinen Besuch von Freunden empfangen. Diego war aufgeweckt, stellte viele Fragen und ließ sich mit Vorliebe Geschichten vorlesen. Mein Traum, Dichter zu werden, war an dem Weg, den das Schicksal mir gewiesen hatte, gescheitert. Ich hatte kaum Zeit, Lyrik zu lesen und mich ihr zu widmen, geschweige denn, Verse zu schreiben. Als ich Diegos Interesse an Geschichten bemerkte, keimte in mir die Hoffnung, er könne zu dem Dichter werden, der ich niemals sein würde. Meine Arbeit und die Erziehung meines Sohnes wurden zu meinem Lebensinhalt.
An Mercedes’ Unnahbarkeit änderte sich nichts. Ich dachte, wenn sie sich weniger Sorgen um Diegos Gesundheit machen müsste, würde sie vielleicht wieder zu der Frau werden, die ich mein Leben lang gekannt hatte.
Dann traf in Madrid die Nachricht ein, dass alle Passagiere an Bord der Sol , darunter Miguel und sein Bruder Rodrigo, auf der Reise nach Spanien von algerischen Korsaren gefangengenommen worden waren. Warum war ich mit Miguels Schatten verflucht? Was musste ich tun, um nie wieder von ihm zu hören?
Bald nachdem ich die Nachricht erfahren hatte, klopfte es eines Abends, als ich allein in meinen Gemächern aß, wie es mir seit unserem Umzug nach Madrid zur Gewohnheit geworden war, an meiner Tür. Mein Diener öffnete, und Mercedes kam herein, sie war sichtlich aufgewühlt. Etwas Schwerwiegendes musste vorgefallen sein – sie hatte mich schon lange nicht mehr in meinen Räumen aufgesucht. »Ich läute nach Ihm, wenn ich mit dem Essen fertig bin«, sagte ich
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