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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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in meinem Kopf Wurzeln fassten. Ich musste an die Aufführungen der Schauspieler in Andalusien denken, die auf den Plätzen der größeren und kleineren Städte kurze Szenen aus ihren Stücken darboten. Der Unterschied zwischen den algerischen Geschichtenerzählern und unseren Schauspielern war, dass im souk ein Mann alle Figuren verkörperte, ob sie nun Menschen waren, Drachen oder Wesen aus einem höllischen Bestiarium.
    Könnte ich womöglich ein paar Münzen verdienen, indem ich auf Spanisch Geschichten erzählte?, überlegte ich mir. Es gab im souk erstaunlich viele Menschen, die Spanisch sprachen – war es denkbar, dass ich die Aufmerksamkeit eines kleinen Publikums erringen könnte? Das größte Hindernis bestand darin, dass ich ein Dichter war: Ich dachte in Versen, in Reimen, in Silben und Vokalen, nicht in Prosa. Vielleicht könnte ich ein paar Verse Garcilasos und anderer Dichter rezitieren, die ich auswendig kannte?
    Jeden Vormittag, wenn es im souk am geschäftigsten zuging, stand ich mit Sancho als meinem gebannten Zuhörer neben einem Brunnen. Die wenigen Passanten, die kurz innehielten, um meiner Rezitation zu folgen, warfen mir einen Blick zu, als spräche ich eine fremdländische Sprache, lachten verständnislos und gingen rasch weiter – als würden sie vor einem Aussätzigen Reißaus nehmen. Hin und wieder blieb eine einsame Seele stehen, um sich einige Gedichte anzuhören, aber niemand warf mir auch nur einen abgenagten Knochen zu.
    »Lasst nicht den Kopf hängen«, sagte Sancho schließlich. »Was erwartet Ihr denn? Dieser Meute Gedichte vorzutragen, heißt Perlen vor die Säue zu werfen. Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt: Ich verstehe Gedichte auch nicht. Mir sind Geschichten lieber. Wenn ich eins von Euren Gedichten gehört habe, möchte ich mich bloß am Kopf kratzen. Warum heulen diese Dichter immer und immer wieder über Jungfern, die ihnen nichts bedeuten? Wenn Ihr jeden Tag etwas zu essen haben wollt, dann sind Gedichte nicht die Antwort, mein Freund. Es tut mir leid.«
    »Was kann ich sonst tun, um Geld zu verdienen, Sancho? Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Meine Zunge ist nützlicher als mein einer Arm.«
    »Erzählt Geschichten wie die Araber«, sagte er.
    Beim ersten Mal erzählte ich eine Geschichte von rivalisierenden Poeten – mit dem gleichen Ergebnis. Die Mär eines Dichters, der mit einer Zigeunerbande aus Spanien floh, wurde nur wenig besser aufgenommen. Eine Weile hörten die Leute gespannt zu, dann gingen sie mit gelangweilter oder verwunderter Miene weiter. Eines Morgens sagte eine spanische Wäscherin, die jeden Tag kurz zugehört hatte: »Eure Stimme ist gut, junger Mann, und ich verstehe, was Ihr sagt. Aber Ihr wisst nicht, wie man Geschichten erzählt.«
    »Verzeiht, Señora«, sagte ich. Es war das erste Mal überhaupt, dass jemand aus dem Publikum mich ansprach.
    »Ich arbeite seit zehn Jahren als Waschfrau im Haus eines reichen Mauren«, sagte sie. »Ich habe jede Hoffnung aufgegeben, vor meinem Tod noch einmal nach Spanien zu kommen und meine Familie wiederzusehen. Wenn ich morgens aufwache, freue ich mich auf die Geschichten, die ich tagsüber im souk hören werde. Diese Geschichten sind die einzige Freude, die ich im Leben habe.« Sie machte eine Pause. Ich sah, dass sie mir helfen wollte. »Aber Ihr versteht es nicht, das Publikum zu unterhalten«, fuhr sie fort. »Alle Geschichten müssen eine Liebesgeschichte enthalten und eine schöne Heldin, und es muss gelitten werden. Eine Geschichte, in der es nicht um Liebe geht, will ich gar nicht hören, und je trauriger, desto besser. Schaut«, sie deutete auf den riesigen Korb voll Schmutzwäsche, den sie zu ihren Füßen abgestellt hatte, »das ist meine Arbeit an jedem Tag, den Gott gibt, wenn ich zu essen bekommen und nicht geprügelt werden will. Ich vergieße gerne Tränen über junge, schöne, wohlgeborene Liebespaare, deren Liebe unter einem schlechten Stern steht und die um der Liebe willen sterben. Ich will nicht über mein eigenes jämmerliches Leben weinen. Junger Mann, entführt mich von hier, bringt mich an einen Ort, an dem ich dieses Rattennest und diese Berge von Dreckwäsche, die mich schon im Traum heimsuchen, vergessen kann. Das ist es, was ich von einer Geschichte erwarte. Und die arabischen Geschichtenerzähler wissen das.« Sie warf mir ein Stück Brot zu, das sie zwischen den Brüsten aufbewahrt hatte, hob den Korb auf ihren Kopf und ging davon.
    Je wortreicher und fantasievoller meine

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