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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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Liebesgeschichten wurden, desto treuer erwies sich mein Publikum. Meinen Zuhörern ging es nicht um Logik, im Gegenteil, abersinnige Geschichten gefielen ihnen am besten – je unglaubwürdiger, desto besser. Sancho sammelte ein, was immer die Leute erübrigen konnten: einige Münzen, ein paar Bissen zu essen. »Sorgt bloß ja immer für Nachschub bei den Geschichten, Miguel«, sagte er. »Das ist viel besser, als uns den Bauch jeden Tag mit Seeigeln vollzuschlagen.«
    Eines Morgens spann ich gerade eine Geschichte von Schäfern und unerwiderter Liebe, als ich unter den Zuhörern Rodrigo erkannte. Mein Herzschlag setzte aus. Konnte das wirklich mein Bruder sein? Erlag ich auch nicht einer Täuschung der algerischen Sonne? Rodrigo war in Begleitung eines reich gekleideten Mauren und dessen Diener. Das war ebender Mohamed Ramdane, der Rodrigo am Hafen ersteigert hatte. In Rodrigos Augen las ich die Warnung: Sag nichts. Tu, als hättest du mich nicht gesehen. Komm nicht her, gib nicht zu erkennen, dass du mich kennst. Erzähl weiter. Zeig deine Gefühle nicht! Er trug einen gut gearbeiteten knöchellangen grauen Umhang mit Kapuze, sein Gebieter trug den weißen burnous , der ihn als wohlhabenden Mauren zu erkennen gab. Mein Bruder sah gepflegt und gut genährt aus.
    Trotz meiner Verwirrung fuhr ich mit meiner weitschweifigen Erzählung fort. Abrupt wandte Ramdane sich ab, mein Bruder folgte ihm mit einem Schritt Abstand. Rodrigo würde in den Tiefen der casbah verschwinden, und Ewigkeiten könnten vergehen, bis ich ihn wiedersah. Ich ließ meine Geschichte abrupt enden, indem ein Blitzschlag den Helden niederstreckte, der gerade hoch zu Pferd aufbrach, um seine geliebte Prinzessin aus den Fängen des bösen Wesirs zu befreien. Die Zuhörer beschwerten sich lauthals. Ich überließ Sancho allein den Schmähungen und allem anderen, was die Zuhörer drangeben wollten.
    Ich ging Rodrigo in einigem Abstand und mit großer Vorsicht nach, obwohl alles in mir danach verlangte, meinen Bruder in die Arme zu schließen, ihm die Hände, die Stirn und die Wangen zu küssen. Mir schwindelte, die Beine wollten mir nicht ganz gehorchen, ich war benommen und ängstlich, gleichzeitig fühlte ich mich aber auch tollkühn und unbezwinglich.
    Mohamed Ramdane erreichte seinen Wohnsitz, einen der elegantesten Paläste in ganz Algier. Bevor Rodrigo durch den Eingang verschwand, drehte er sich um, kniff fast unmerklich das linke Auge zusammen und hob die linke Augenbraue zum Turm rechterhand der Tür.
    Unterhalb dieses Turms bildeten Pinien und dichtes Gebüsch ein grünes Versteck. Dort verborgen, wartete ich, doch von Rodrigo kam kein Zeichen. Hatte ich ihn missverstanden? Hatte ich mich getäuscht? Nie waren Minuten und Sekunden so langsam vergangen. Stunden dehnten sich zu Jahren. Das Atmen fiel mir schwer. Als es heißer wurde und die Sonne direkt über meinem Kopf stand, begann ich zu schwitzen, obwohl ich im Schatten saß. Schließlich wanderte die Sonne nach Westen, am Nachmittag kam eine kühle Brise auf, in der die Vögel zu singen begannen. Mir wurde kalt. Selbst als der Abendstern am rot überzogenen Himmel erschien, wollte ich noch nicht gehen. Doch als ich von der Moschee den letzten Ruf hörte, ehe die Tore des bagnio zur Nacht schlossen, verließ ich mein Versteck und lief zurück.
    Außer Sancho konnte ich niemandem von dieser wunderbaren Begebenheit erzählen. Informationen waren in Algier eine Währung, insbesondere bei den Gefangenen, die sie an die Wachposten weitergaben, gegen Geld oder um das Wohlwollen ihrer Gebieter zu gewinnen, die sie früher oder später freisetzen oder adoptieren konnten.
    Am nächsten Morgen ging ich nicht in den souk und auch die folgenden Tage nicht, sondern wartete in dem Wäldchen unterhalb des Turms und hoffte, Rodrigo wenigstens aus der Ferne zu sehen. Meine kargen Ersparnisse waren bald aufgebraucht, da ich keine Geschichten im souk erzählte.
    Zwei Wochen vergingen. Eines Nachmittags musste ich, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, eingedöst sein, als mich ein dumpfer Aufprall auf dem Teppich aus Piniennadeln, der den Boden bedeckte, aufschreckte. Neben meinen Füßen sah ich einen etwa faustgroßen Klumpen, eingewickelt in ein Stück Stoff. Rodrigo musste ihn mir zugeworfen haben, während ich schlummerte. Ich schaute hoch, aber von meinem Bruder war nichts zu sehen. Schnell nahm ich den unförmigen Ball an mich und löste den Knoten. Innen befand sich ein zusammengeknülltes Blatt

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