Die Leidenschaft des Cervantes
Das in Erfahrung gebracht zu haben, gab mir die nötige Hoffnung, um Pläne für unsere Flucht aus Algier zu schmieden.
Allmählich fing ich an, mich für mein Aussehen und die Welt um mich her zu interessieren und die Anlage der Stadt zu erforschen, die ich nach möglichen Fluchtwegen absuchte. Oft ging ich die Mauer entlang, die ganz Algier umgab und die Stadt vor Angriffen zu Wasser und zu Land schützte, die aber auch ein fast unüberwindliches Hindernis für alle Gefangenen, entlaufenen Verbrecher und Sklaven darstellte, die zu fliehen hofften.
Ich studierte die neun Tore in der Stadtmauer und prägte mir ein, welche verschlossen waren und nie geöffnet wurden, welche zu bestimmten Stunden offen standen, wenn auch schwer bewacht, welche in die Wüste führten und welche zum Mittelmeer hin ausgerichtet waren. Und ich erfuhr von den Höhlen in den Bergen jenseits der Mauer.
Von den neun Toren wurde das Bab Azoun, von dem aus man zur Wüste blickte, am meisten genutzt. Stundenlang verfolgte ich, wie Reisende nach Süden zu Siedlungen im Inland aufbrachen, wie mit Sandschichten bedeckte Trägerkolonnen aus der Wüste und dem dunklen Afrika eintrafen, beobachtete das Kommen und Gehen der Bauern und Sklaven, die die fruchtbaren grünen Felder bewirtschafteten, welche sich von der Stadt bis zu den smaragdgrünen Bergen hinzogen, hinter denen die Sahara begann, sah die Landarbeiter, die in die Stadt kamen, um ihre Erzeugnisse zu verkaufen, und schier unzählige Karawanen von Kamelen, beladen mit den Schätzen aus dem Inneren Afrikas. Ich trieb mich in der Nähe des Tors herum, bis es bei Einbruch der Dunkelheit verriegelt wurde, um erst am nächsten Morgen wieder geöffnet zu werden. Ich achtete auf den Tagesablauf und die Schichten der Wachposten, die in den Türmen zu beiden Seiten des Tors hockten, bewaffnet mit Arkebusen und jederzeit bereit, ohne Vorwarnung auf jeden zu schießen, der ihren Verdacht erregte. An den Außenmauern des Bab Azoun hingen von Eisenhaken Männer in unterschiedlichen Stadien der Zersetzung.
Die Wüste war wie die See: Wenn man in ihrer Nähe lebte und sie zu lange betrachtete, rief sie einen, bis man ihrem Lockruf erlag. Damals lernte ich von den Gefahren, die in der großen Schönheit dieses Landes lauerten, dessen majestätische, schwarz bemähnte Löwen Elefanten auf dieselbe Art zerfetzten, wie ich in besseren Zeiten die Beine und Flügel gebratener Wachteln ausgerissen hatte, um mich zu sättigen. Länger brauchte ich, um zu verstehen, dass die grandiose Schönheit der Wüste einen auch verführte, sich der Umarmung des Todes zu überlassen.
In der Gefangenschaft kroch die Zeit dahin, jeder Tag war unerträglich, und jeder neue Tag war eine getreue Wiederholung des vorhergehenden. Das schleichende Verstreichen der Zeit war das perfideste Folterinstrument der Sklaverei. Jeder weitere Tag, den ich in Gefangenschaft verbrachte, war ein Tag meines Lebens mehr, an dem ich nicht die Freiheit kostete. Und am Ende eines jeden Tages, an dem ich nichts von Mohamed Ramdanes Rückkehr nach Algier gehört hatte, kehrte ich am Boden zerstört ins bagnio zurück. Mein Leben drehte sich nur darum, irgendwo etwas Essbares zu finden. Wie schnell hatte ich doch meine Würde verloren und war zum Bettler und Aasfresser geworden. Doch der Überlebenswille ist stärker als der Stolz.
Indem ich mich ausschließlich von den Fischen ernährte, die Sancho und ich am Morgen erbeuteten, kratzte ich ein paar Münzen zusammen, um einen guten Federkiel, ein Fläschchen Schreibtinte und ein Dutzend Papierbögen zu kaufen und meinen Eltern und Freunden zu schreiben. Obwohl Luis Lara nie auf meine Briefe aus Italien geantwortet hatte, schrieb ich ihm erneut und bat ihn um Hilfe.
Es dauerte Monate, bis Briefe aus Spanien das Mittelmeer überquerten. Fast hatte ich schon die Hoffnung aufgegeben, je Antwort von zu Hause zu erhalten, als ein Brief meiner Eltern eintraf. An dem Tag erlebte ich den ersten glücklichen Moment in Algier, denn nichts stimmte mich froher als zu lesen, dass meine Eltern und Schwestern wohlauf waren. Meine Mutter fügte hinzu, sie bete zur heiligen Muttergottes, dass mir nichts zustoße und ich bald nach Spanien zurückkehren möge. Meine Eltern versicherten mir, sie täten alles, was in ihrer Macht stünde, um das Geld zu beschaffen und meinen Bruder und mich freizukaufen. Wenn meinem Vater nicht plötzlich das Glück lachte – was ein großes Wunder wäre –, würde sich meine Familie
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