Die Leidenschaft des Cervantes
niemals das Lösegeld für uns leisten können, das wusste ich. Ich lernte den Brief auswendig und steckte ihn in den Beutel unter meiner Tunika. Von Luis erhielt ich keine Antwort.
Nachdem ich den Brief meiner Eltern bekommen hatte, sehnte ich mich umso mehr nach der vertrauten Welt, die ich vor so langer Zeit verlassen hatte. Ich verlor zunehmend den Mut. Eines Tages sagte Sancho zu mir: »Die ganze Zeit an unsere Gefangenschaft zu denken, nimmt uns alle Kraft, Miguel. Und genau darauf bauen sie doch, diese Söhne von türkischen Hurenmüttern. Je mehr sie uns das Rückgrat brechen, desto weniger Schwierigkeiten bereiten wir ihnen. Ihr müsst lernen, unser Unglück in positivem Licht zu sehen, junger Herr. Vielleicht passieren uns all diese Widrigkeiten ja aus einem bestimmten Grund.«
»Mir ist schleierhaft, wie auch nur eines meiner Unglücke je in einem positiven Licht zu sehen wäre, Freund Sancho«, antwortete ich wütend. Manchmal verdross mich sein unerbittlicher Optimismus.
»Na, schaut doch«, sagte Sancho. »Wenn mein alter Herr, der Graf von Ordoñez, nicht gestorben wäre und seine Kinder mich nicht auf die Straße gesetzt hätten, und wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, Eurem seelenguten Vater zu begegnen, der mich aus der Freundlichkeit seines Herzens heraus behandelte, als ich erbärmlich darniederlag, hätte ich Euch niemals kennengelernt, und dann hättet Ihr mich jetzt nicht hier in Algier, wo ich Euch an meinen fünf reales Weisheit teilhaben lassen kann.«
Damit hatte er nicht unrecht, aber zu welchem Nutzen seine Gefangenschaft ihm gereichte, war eine Frage, die ich nicht stellen wollte. Viele Jahre später wurde mir klar, dass ich dank meiner Sklavenexistenz in Algier meiner zweitberühmtesten Romangestalt begegnet war. Und da erkannte ich auch, dass meine leidselige Erfahrung in der elendiglichen Viperngrube mir innere Kraft gegeben hatte und auch die Gelassenheit, die vielen schlechten Karten hinzunehmen, die Fortuna mir austeilte.
Allmählich gedachte die Muse der Poesie wieder meiner. Jahre waren vergangen, seit ich mich selbst als Dichter gesehen hatte. Da ich mir aufgrund fehlender Geldmittel Papier und Tinte nicht leisten konnte, musste ich meine Gedichte im Kopf schreiben und sie mir einprägen. Ich fing an, in einer anderen Welt als der greifbaren zu leben, an einem Ort, an dem die Türken mich nicht fassen konnten, einem Ort, an dem ich ein freier Mensch war. Das Dichten wurde zu einem der wenigen Dinge, die mich aufrichteten, und es bewahrte mich davor, den Verstand zu verlieren. Zu wissen, dass niemand mir das Geschriebene wegnehmen konnte, das nur in meinem Kopf existierte, gab mir zum ersten Mal, seit die Korsaren mich entführt hatten, ein Gefühl von Macht. Sancho warnte mich, dass ich die unwillkommene Aufmerksamkeit der Wachposten auf mich lenken würde, wenn ich stundenlang allein im bagnio saß und vor mich hin murmelte, während alle anderen unterwegs waren. So lernte ich, Gedichte beim Spazieren durch den souk zu verfassen.
Auf diesen Wanderungen blieb ich immer wieder bei maurischen Geschichtenerzählern stehen und ließ mich schnell von ihnen begeistern. Schon als Kind hatte ich es geliebt, den Geschichten Wildfremder zuzuhören. Menschen aller Altersstufen standen gebannt unter der sengenden Sonne, unterbrachen für einen Moment ihr Tagwerk, um den Männern zu lauschen, die die uralte Kunst des Erzählens beherrschten. Ich kannte einige arabische Wörter und Ausdrücke, und so verstand ich die Namen der Figuren, nicht aber, wovon die Geschichten handelten. Wenn das Publikum beifällig murmelte oder lachte, deutete ich diese Reaktion so, dass die Handlung eine unerwartete Wendung genommen hatte. Selbst die Frauen, das Haar mit einem hijab bedeckt und das Gesicht hinter einem weißen almalafa verborgen, blieben stehen und hörten zu. Manchmal kam es mir vor, als würde ein und dieselbe Geschichte tagelang weitergehen. Händler, Dienstboten, die für ihre Herrschaften Waren kauften, und Scharen von Gossenkindern entlohnten die Geschichtenerzähler am Ende der täglichen Episode mit Feigen, Orangen, Eiern, einem Stück Brot und gelegentlich einem piaster oder einer anderen kleinen Münze. Die treuesten Zuhörer kehrten mitsamt ihren Körben voll Esswaren und ihren Wäscheladungen Tag für Tag wieder, süchtig nach neuen Geschichten. Diese Künstler und die Reaktion des Publikums faszinierten mich so sehr, dass langsam der Klang und die Bedeutung des Arabischen
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